Bettler 01 - Bettler in Spanien
in emotional problematischen Situationen. Rhonda Lavelier hatte sich vom Staat Kalifornien die Befugnis verschafft, als Pflegemutter arbeiten zu dürfen, und die Gruppe brachte kleine Schlaflose, die man aus ihren Familien entfernt hatte, zu ihrem eigenen Schutz bei Rhonda unter, wann und wo immer das ermöglicht werden konnte. Außerdem verfügte die Gruppe über drei fertig ausgebildete Rechtsanwälte; im nächsten Jahr sollten vier weitere hinzukommen, die in fünf verschiedenen Bundesstaaten berechtigt sein würden, ihren Beruf auszuüben.
Ein einziges Mal nur war es ihnen nicht gelungen, einen kleinen mißhandelten Schlaflosen auf legalem Weg von seiner Familie zu trennen; da entführten sie ihn: Timmy DeMarzo, vier Jahre alt.
Leisha war gegen diesen Gewaltakt gewesen. Sie hatte sich moralisch und pragmatisch – für sie ein und dasselbe – mit folgenden Argumenten gegen die Aktion ausgesprochen: Wenn die Gruppe an die Gesellschaft als solche glaubte, an ihre grundlegenden Regeln und Gesetze, und an die Qualifikation der Gruppe, dieser Gesellschaft als gleichberechtigtes Element anzugehören, dann mußte sie sich auch an den Gesellschaftsvertrag mit all seinen Pflichten gebunden fühlen; die Schlaflosen waren zum größten Teil Yagaiisten, man sollte sie eigentlich nicht besonders darauf hinweisen müssen, meinte Leisha. Und falls das FBI sie zu fassen bekäme, würden Gerichte und Medien sie alle ans Kreuz schlagen.
Das FBI bekam sie nicht zu fassen.
Timmy DeMarzo war noch nicht einmal alt genug gewesen, um über das Computernetz um Hilfe zu rufen; die Gruppe erfuhr von ihm über ein automatisches Abfrageprogramm, das Kevin in seiner Firma installiert hatte, aus den Polizeicomputern. Timmy wurde einfach aus seinem Garten in Wichita geholt. Nun lebte er seit einem Jahr bei einer in rechtlicher Hinsicht makellosen Pflegemutter in einem großen Wohnwagen in North Dakota, wo die Pflegemutter ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Der Wohnwagen stand ganz allein und isoliert im Nirgendwo, aber kein Ort der Welt ist zu isoliert für ein Modem.
Die Pflegemutter war die Cousine zweiten Grades eines Schlaflosen, eine dicke, immer gut gelaunte Frau mit einem weitaus klügeren Kopf, als ihre äußere Erscheinung vermuten ließ. Sie war Yagaiistin. Die Existenz des Kindes schien in keiner Datenbank auf, weder beim Finanzamt noch in irgendeiner Schule, sie ließ sich nicht einmal aus den Verkaufsbons aus der Computerkasse des dortigen Lebensmittelladens schließen. Die erkennbar für ein Kind bestimmten Nahrungsmittel für den Kleinen wurden einmal monatlich mit einem Laster geliefert, der einer Schlaflosen am State College in Pennsylvania gehörte. Von den dreitausendvierhundertachtundzwanzig Schlaflosen, die je in den USA geboren worden waren, wußten nur zehn Mitglieder der Gruppe von der Entführung. Zweitausendsechshunderteinundneunzig gehörten der Gruppe via Groupnet an. Und weitere siebenhundertundeiner waren noch zu jung, um ein Modem zu benutzen. Nur sechsunddreißig Schlaflose gehörten – aus unbekannten Gründen – der Gruppe nicht an.
Tony Indivino hatte die Entführung vorbereitet und ausführen lassen.
»Ich wollte mit dir über Tony reden«, sagte Kevin zu Leisha. »Er fängt schon wieder an. Und diesmal ist es ernst. Er kauft Land.«
Sie faltete den Zeitungsausdruck sehr klein zusammen und legte ihn behutsam auf den Tisch. »Wo?«
»In den Allegheny Mountains. Im Süden des Staates New York. Viel Land. Momentan läßt er die Straßen anlegen. Im Frühjahr sollen die ersten Gebäude dazukommen.«
»Und Jennifer Sharifi finanziert immer noch alles?« Seit dem Interleukin-Umtrunk in Camdens Wäldchen waren sechs Jahre vergangen, aber die Nacht war Leisha unvergeßlich im Gedächtnis geblieben. Ebenso wie Jennifer Sharifi.
»Ja. Sie hat ja jede Menge Geld. Und Tony bekommt langsam eine Anhängerschaft, Leisha.«
»Ich weiß.«
»Ruf ihn an.«
»Mach ich. Und halte mich wegen Stella auf dem laufenden.«
Sie arbeitete bis Mitternacht an der Law Review und bereitete sich dann bis vier Uhr morgens auf die Vorlesungen des nächsten Tages vor. Von vier bis fünf beschäftigte sie sich mit rechtlichen Belangen der Gruppe, und um fünf Uhr früh rief sie Tony an, der immer noch in Chicago wohnte. Er hatte die High School beendet und anschließend ein Semester am Northwestern studiert; in den Weihnachtsferien hatte es ihm endgültig gereicht, daß seine Mutter ihn zwang, wie ein Schläfer zu
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