Bettler 01 - Bettler in Spanien
doch schon in Harvard, daß ich sie nicht habe«, erklärte Camden. Er begann, in seinem Sessel herumzurutschen – die ungeduldige Bewegung eines Körpers, der offenbar nie damit rechnete, je zu erlahmen. Im Januar war Kenzo Yagai an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben; die Nachricht war Camden sehr nahegegangen. »Sie bekommt ihr Geld über einen Anwalt. Auf ihren Wunsch hin.«
»Dann möchte ich die Adresse des Anwalts.«
Der Anwalt, ein vertrockneter Mensch namens John Jaworski, weigerte sich, Leisha zu sagen, wo Alice sich aufhielt. »Sie möchte nicht, daß jemand nach ihr sucht, Miss Camden. Sie wollte alle Brücken abbrechen.«
»Aber doch nicht zu mir!« rief Leisha.
»Auch zu Ihnen«, entgegnete Jaworski, und in seinen Augen flackerte etwas auf, das sie zum letztenmal in Dave Hannaways Gesichtsausdruck gesehen hatte.
Vor ihrer Rückkehr nach Boston flog Leisha nach Austin, wodurch sie erst einen Tag nach Vorlesungsbeginn in Harvard eintreffen würde. Kevin Baker sagte einen Termin bei IBM ab und empfing sie augenblicklich. Leisha erklärte ihm kurz, was sie brauchte, und er setzte seine besten Datanet-Leute auf das Problem an, ohne diese jedoch in die Einzelheiten einzuweihen. Innerhalb von zwei Stunden hatten sie Alices Adresse aus Jaworskis elektronischen Datenbanken geholt. Leisha fiel auf, daß sie soeben zum erstenmal einen Schlaflosen um Hilfe gebeten hatte; sie war ihr auf der Stelle gewährt worden. Ohne Tauschhandel.
Alice befand sich in Pennsylvania. Am folgenden Wochenende mietete Leisha einen Luftkissenwagen mit Chauffeur – ihre inzwischen erworbenen Fahrkenntnisse beschränkten sich bislang auf straßengebundene Fahrzeuge – und fuhr nach High Ridge in den Appalachen.
Es war ein winziges, entlegenes Dorf, mehr als vierzig Kilometer vom nächsten Krankenhaus entfernt. Alice lebte in einer besseren Hütte mitten im Wald mit einem wortkargen Mann namens Ed zusammen, der von Beruf Zimmermann und zwanzig Jahre älter war als sie. Das Häuschen verfügte zwar über Fließendes Wasser und Elektrizität, nicht aber über einen Anschluß ans Infonet. Dunkel und nackt und von eisigen Rinnsalen durchzogen lag das Erdreich im schwachen Licht des Vorfrühlings. Wie es aussah, arbeiteten Alice und Ed gar nichts. Alice war im achten Monat schwanger.
»Ich wollte dich nicht hierhaben«, sagte sie. »Warum bist du trotzdem gekommen?«
»Weil du meine Schwester bist.«
»Meine Güte, schau dich doch an, wie du aussiehst! Trägt man das jetzt in Harvard? Solche Stiefel? Seit wann ziehst du dich denn so elegant an? Du warst doch immer viel zu intellektuell, um dich um solche Sachen zu kümmern!«
»Was soll denn das alles, Alice? Warum bist du ausgerechnet hierher gezogen? Was machst du denn an diesem gottverlassenen Ort?«
»Ich lebe«, sagte Alice. »Weit weg von unserem geliebten Papa, weit weg von Chicago, weit weg von der armen, besoffenen, erledigten Susan – wußtest du, daß sie trinkt? Genau wie Mama. Offenbar hat der Alte diesen Effekt auf seine Umgebung. Aber nicht auf mich. Ich bin rechtzeitig abgehauen. Und ich frage mich, ob du es auch mal schaffen wirst.«
»Abgehauen – hierher?«
»Ich bin glücklich hier«, erklärte Alice gereizt. »Und ausschließlich darum geht es ja angeblich, oder? Das ist doch das Wunschziel eures großartigen Kenzo Yagai: Glück durch individuelles Streben.«
Leisha war nahe daran, ihr zu sagen, daß von individuellem Streben nicht viel zu sehen sei, unterließ es dann aber. Ein Huhn rannte über den Hof, und hinter dem Häuschen stiegen Schicht um bläuliche Schicht die bewaldeten Bergketten aus dem Dunst. Leisha dachte einen Moment lang daran, wie es hier wohl im Winter gewesen sein mußte: völlig abgeschnitten von der Welt, in der Menschen Zielen nachjagten, lernten, sich änderten.
»Ich freue mich, daß du glücklich bist, Alice.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Dann freue ich mich auch«, sagte Alice fast trotzig – und im nächsten Augenblick umarmte sie Leisha ungestüm und unerwartet. Die harte Schwellung ihres Bauches drängte sich zwischen die beiden, und Alices Haar duftete süß wie frisches Gras im Sonnenschein.
»Ich komme wieder, Alice.«
»Tu’s nicht«, sagte Alice.
6
»Bitte laßt mich schlafen wie wirkliche Menschen!« plärrte die Schlagzeile am Zeitungskiosk im Supermarkt. Kleiner schlafloser Mutant bettelt um Umkehrung des Pfusches an seinen Genen.
Während Leisha ihre Kreditkartennummer eintippte und sich ein
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