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Bettler 01 - Bettler in Spanien

Titel: Bettler 01 - Bettler in Spanien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Augen gezogen, stand er plötzlich mitten in der Haustür und versperrte ihr den Weg. Der Leibwächter hinter Leisha war augenblicklich in Alarm versetzt.
    »Richard! Ist schon gut, Bruce, das ist ein alter Freund.«
    »Hallo, Leisha!«
    Er war wuchtiger und noch stämmiger geworden und weitaus breiter um die Schultern als in ihrer Erinnerung. Doch das Gesicht gehörte ohne Zweifel Richard – es war zwar etwas älter geworden, aber ansonsten unverändert: dunkle Augenbrauen, widerspenstiges schwarzes Haar. Und er hatte sich einen Bart wachsen lassen.
    »Du siehst großartig aus«, sagte er.
    Oben in der Wohnung gab sie ihm eine Tasse Kaffee. »Bist du geschäftlich hier?« Aus dem Groupnet wußte sie, daß er sein Diplom gemacht und in der Karibik hervorragende Arbeit auf dem Gebiet der Meeresbiologie geleistet hatte. Doch seit einem Jahr war er nicht mehr dort beschäftigt und auch aus dem Netz verschwunden.
    »Nein. Nur zum Vergnügen.« Er lächelte unvermittelt, und es war noch das Lächeln von früher, das seinem dunklen Gesicht einen so offenen Ausdruck verlieh. »Auf das Vergnügen hatte ich die längste Zeit ganz vergessen. Befriedigung ja, die hatte ich. Wenn es um die Art von Befriedigung geht, die aus faszinierender Arbeit entsteht, dann wissen wir alle, wie wir uns die verschaffen können. Aber Vergnügen? Närrische Einfälle? Einer Laune nachgeben? Wann hast du zuletzt was wirklich Albernes getan, Leisha?«
    Sie lächelte. »Ich hab’ in der Dusche Zuckerwatte gegessen.«
    »Ehrlich? Warum?«
    »Ich wollte sehen, ob sie schöne klebrige Muster bildet, wenn sie sich auflöst.«
    »Und? Hat sie?«
    »Mhm. Wunderschöne Muster.«
    »Und das war dein letzter alberner Einfall. Wann war es?«
    »Im letzten Sommer«, erklärte Leisha lachend.
    »Also, meiner ist aktueller. Er findet gerade statt. Ich bin nur deshalb hier in Boston, um mir die spontane Freude zu gönnen, dich zu sehen.«
    Leisha hörte auf zu lachen. »Dein Tonfall klingt aber ziemlich ernst für eine spontane Freude, Richard.«
    »Ja«, sagte er ernst. Sie lachte wieder.
    Er lachte nicht. »Ich war in Indien, Leisha. Und in China und in Afrika. In erster Linie, um nachzudenken. Hab mich umgesehen und beobachtet. Anfangs bin ich gereist wie ein Schläfer und habe jegliches Aufsehen vermieden. Dann legte ich es darauf an, mit den Schlaflosen in Indien und China zusammenzutreffen. Es gibt doch einige dort, deren Eltern gewillt waren, für den Eingriff hierher zu kommen. Die Schlaflosen dort werden im großen und ganzen respektiert und in Ruhe gelassen. Ich habe mich bemüht herauszufinden, warum die Menschen in den ganz armen Ländern – ›arm‹ nach unseren Maßstäben, denn dort drüben verfügen erst die Großstädte über Y-Energie –, warum also die Menschen in diesen Ländern keinerlei Probleme damit haben, die Überlegenheit der Schlaflosen zu akzeptieren, während die Amerikaner mit all ihrem nie zuvor gekannten Wohlstand mehr und mehr Ablehnung entwickeln.«
    »Und? Hast du es herausgefunden?«
    »Nein. Aber ich habe in den vielen kleinen Gemeinden und Dörfern und Kampongs die Augen offengehalten, und da ist mir etwas anderes aufgefallen: Wir sind zu individualistisch.«
    Von Enttäuschung überkommen sah Leisha das Gesicht ihres Vaters vor sich: Der Allerbeste zu sein, das ist es, was zählt, Leisha. Durch individuelle Leistung über alle anderen hinauszuwachsen… Sie erhob sich und griff nach Richards Tasse. »Noch Kaffee?«
    Er packte sie am Handgelenk und sah sie unverwandt an. »Mißversteh mich nicht, Leisha. Ich rede jetzt nicht über die Arbeit. Nein, unser ganzes Leben verläuft zu individualistisch. Zu karg in gefühlsmäßiger Hinsicht. Zu einzelgängerisch. Isolation tötet mehr als nur den freien Fluß von Ideen. Sie tötet die Freude.«
    Er ließ ihr Handgelenk nicht los. Sie sah in seine Augen hinab, in Tiefen, in die sie noch nie vorgedrungen war. Sie hatte das Gefühl, in einen Bergwerksschacht zu blicken; es verursachte Schwindel und Angst und ein wenig Trunkenheit, dieses Wissen, daß auf dem Grund des Schachts Gold oder Finsternis warteten. Oder beides.
    Richard sagte leise: »Und Stewart?«
    »Das ist schon lange vorbei. Eine Studentenliebe.« Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren.
    »Kevin?«
    »Nein, da war nie etwas. Wir sind nur Freunde.«
    »Ich war mir nicht sicher. Und jemand anderer?«
    »Auch nicht.«
    Er ließ ihr Handgelenk los. Leisha blickte ihn fast schüchtern an. Plötzlich lachte er auf.

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