Bettler 01 - Bettler in Spanien
sonderlich anerkannt.«
»War es also unrecht, was er getan hat?« Die Frage kam mit einem Unterton von Hilflosigkeit heraus, den Leisha nicht gewollt hatte.
Susan lächelte melancholisch. »Nein, es war nicht unrecht. Ich hätte nie meine Forschungsarbeit aufgeben dürfen. Hinterher hat es lange gedauert, bis ich mit mir selber wieder klarkam.«
Genau so macht er es bei allen Menschen, vernahm Leisha es in ihrem Kopf. Susan? Oder Alice? Ausnahmsweise konnte Leisha sich nicht genau entsinnen. Sie sah nur ihren Vater in dem alten Gewächshaus vor sich, wie er seine geliebten exotischen Pflanzen eintopfte und immer wieder umtopfte.
Sie war müde – eine körperliche Mattigkeit, hervorgerufen durch Druck und Anspannung. Zwanzig Minuten absolute Ruhe, und sie würde wieder erholt sein. Ihre Augen brannten von den ungewohnten Tränen; sie lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schloß die Augen.
Susan bog in den Parkplatz des Flughafens ein und stellte den Motor ab. »Ich möchte dir noch etwas sagen, Leisha.«
»Geht es um das Testament?« Sie öffnete die Augen.
Susan lächelte mit zusammengepreßten Lippen. »Nein. Du hast doch nichts daran auszusetzen, wie er sein Vermögen aufgeteilt hat, oder? Scheint dir doch vernünftig, nicht wahr? Aber das ist es nicht. Biotech und Chicago Medical haben die Untersuchungen an Bernie Kuhns Gehirn abgeschlossen. Die Analyse liegt vor.«
Leisha fuhr herum; Susans Gesichtsausdruck erschreckte sie ein wenig. Entschlossenheit sprach daraus, Genugtuung, Wut und noch etwas, das sich jedem Deutungsversuch entzog.
»Das Ergebnis wird nächste Woche publiziert«, sagte Susan. »Im New England Journal of Medicine. Bisher war die Geheimhaltung unglaublich streng. Absolut nichts durfte an die Medien durchsickern. Aber ich möchte dir jetzt und persönlich sagen, was wir herausgefunden haben. Damit es dich nicht unvorbereitet trifft.«
»Sprich nur«, sagte Leisha. Es wurde ihr eng ums Herz.
»Weißt du noch, wie du zusammen mit den anderen jungen Schlaflosen Interleukin-1 genommen hast, weil ihr wissen wolltet, wie es ist zu schlafen? Als du sechzehn warst?«
»Wie hast du denn davon erfahren?«
»Wir haben euch alle weitaus sorgfältiger im Auge behalten, als du denkst. Erinnerst du dich auch an die Kopfschmerzen hinterher?«
»Ja.« Sie und Richard und Tony und Carol und Brad und Jeanine… Nach ihrem Ausschluß durch das Olympische Komitee hatte Jeanine die Eislaufschuhe nicht mehr angezogen. Sie war Kindergärtnerin in Butte, Montana.
»Interleukin-1 ist es, worüber ich mit dir reden will. Zum Teil wenigstens. Es ist eine Substanz aus einer ganzen Gruppe von Wirkstoffen, die das Immunsystem stärken. Sie stimulieren die Produktion von Antikörpern, die Beweglichkeit der weißen Blutkörperchen und eine ganze Reihe weiterer Immunverstärker. Bei normalen Menschen findet die Ausschüttung von IL-1 im Tiefschlaf statt. Das heißt, daß ihr – unser – Immunsystem angekurbelt wird, während wir schlafen. Eine der Fragen, die wir Genforscher uns vor achtundzwanzig Jahren stellten, lautete: Werden schlaflose Kinder, bei denen diese Ausschüttung von IL-1 nicht stattfindet, öfter als andere krank sein?«
»Ich war noch nie krank«, warf Leisha ein.
»O doch. Du hattest in deinen ersten vier Lebensjahren die Windpocken und drei leichtere Erkältungen«, stellte Susan penibel fest. »Aber im allgemeinen wart ihr ein recht gesunder Stall von Kindern. Und so blieb uns Forschern nur die zweite Theorie, weshalb es im Schlaf zu einer Stärkung des Immunsystems kommt: daß nämlich der plötzliche Ausbruch von Immuntätigkeit der Ausgleich für eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit des schlafenden Körpers ist, was vermutlich in irgendeiner Weise mit den Schwankungen der Körpertemperatur während der REM-Phasen zusammenhängt. Mit anderen Worten, endogene Pyrogene wie IL-1 kompensieren die Immunschwäche, die vom Schlaf erst verursacht wird. Schlaf ist das Problem, Immunverstärker sind die Lösung. Ohne Schlaf gäbe es das Problem nicht. Kannst du mir folgen?«
»Ja.«
»Na klar kannst du. Blöde Frage.« Susan strich sich das Haar aus der Stirn. An den Schläfen wurde es bereits grau. Unter dem rechten Ohr hatte sie einen winzigen braunen Altersfleck.
»In all den Jahren bekamen wir Tausende, ja vielleicht Hunderttausende von Singulären Photonenemissionstomographien von euren Gehirnen zusammen, und dazu noch zahllose EEGs und Proben von Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit,
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