Bettler 01 - Bettler in Spanien
zurückstarrte und nicht vorhatte, auch nur eine Handbreit von seiner Überzeugung abzurücken. Ein Mann, der noch auf dem Totenbett felsenfest daran glaubte, daß er recht hatte.
Alice nahm Leisha am Ellbogen, und ihre Stimme war so leise, daß niemand sonst sie hören konnte: »Er hat jetzt alles gesagt, Leisha. Und du wirst darüber hinwegkommen.«
Alice hatte Sohn und Ehemann in Kalifornien zurückgelassen; seit zwei Jahren war sie mit Beck Watrous verheiratet, einem Bauunternehmer, den sie in einem Ferienort auf den Künstlichen Inseln kennengelernt hatte, wo sie als Kellnerin arbeitete. Beck hatte Alices Sohn Jordan adoptiert.
»Ich hatte eine schwere Zeit hinter mir, als ich Beck traf«, erzählte Alice mit leiser, zurückhaltender Stimme. »Weißt du, als ich Jordan erwartete, träumte ich tatsächlich, er würde ein Schlafloser werden. Wie du. Jede Nacht träumte ich das und jeden Morgen nach dem Aufwachen war mir speiübel, und ich wußte, mein Baby würde ein dummer Niemand sein. Wie ich. Ich blieb noch zwei Jahre bei Ed in den Appalachen – du hast mich dort einmal besucht, erinnerst du dich? Wenn er mich prügelte, genoß ich das richtiggehend. Er berührte mich wenigstens. Ich wünschte mir immer, Papa könnte es sehen.«
Leisha schluckte.
»Ich bin dann von ihm weg, weil ich um Jordan Angst hatte. Ging nach Kalifornien und hab ein Jahr lang bloß gegessen. Hatte fast neunzig Kilo.« Alice war etwa einsfünfundsechzig, schätzte Leisha. »Und dann kam ich nach Hause, um Mutter zu besuchen.«
»Du hast es mir nicht gesagt. Du wußtest, daß sie lebte, und hast es mir nicht gesagt!«
»Sie verbringt ihr halbes Leben auf Entwöhnung in der Klapsmühle«, erklärte Alice mit brutaler Unverblümtheit. »Dich hätte sie ohnedies nicht sehen wollen. Aber mich hat sie zu sich gelassen, stürzte sich auf mich und küßte mich ab, weil ich doch ihre einzige ›echte‹ Tochter war, und dann hat sie mir aufs Kleid gekotzt. Ich machte einen Schritt zurück und sah mein Kleid an und wußte, sie hatte das richtige getan, das Kleid war zum Kotzen. So ausnehmend häßlich, wie es war. Mutter fing dann an zu flennen, wie Papa ihr Leben ruiniert hatte und meines dazu und alles nur für dich. Weißt du, was ich daraufhin machte?«
»Was?« fragte Leisha mit unsicherer Stimme.
»Ich flog nach Hause, verbrannte alle meine Kleider, suchte mir Arbeit, begann, das College nachzuholen, nahm zwanzig Kilo ab und brachte Jordan zur Spieltherapie.«
Die beiden Schwestern saßen eine Weile schweigend beisammen; draußen vor den Fenstern lag der See im Dunkeln, weder Mond noch Sterne standen am Himmel. Es war Leisha, die plötzlich erschauerte, und Alice, die ihr sanft den Rücken tätschelte.
»Sag…« Aber es fiel ihr einfach nichts ein, was sie von Alice hätte wissen wollen; nur ihre Stimme wollte sie hören, Alices Stimme, wie sie jetzt klang, so sanft und zurückhaltend und ohne den geringsten Nachhall jener Beeinträchtigung, die Alice durch Leishas Existenz erfahren hatte. Ihre bloße Existenz als Beeinträchtigung… »Sag mir etwas über Jordan. Er ist jetzt fünf, nicht wahr? Wie ist er denn so?«
Alice wandte den Kopf und sah Leisha gerade in die Augen. »Er ist ein fröhlicher, ganz normaler kleiner Junge. Ein völlig normaler Junge.«
Eine Woche später war Camden tot. Nach der Beerdigung machte Leisha den Versuch, ihre Mutter in der Brookfield-Klinik für Drogen- und Alkoholkranke zu besuchen. Doch Elizabeth Camden, so teilte man ihr mit, empfing außer Alice Camden Watrous, ihrem einzigen Kind, keine Besuche.
Susan Melling, ganz in Schwarz, fuhr Leisha zum Flughafen. Geschickt lenkte Susan das Thema auf Leishas Studium und ließ sich nicht mehr davon abbringen. Sie erkundigte sich nach Harvard, nach den Vorlesungen, nach der Law Review. Leisha antwortete einsilbig, aber Susan fuhr unbeirrt fort zu fragen und erwartete Antworten: Wann würde Leisha die Zulassung zum Anwaltsberuf beantragen? Wo sprach sie wegen einer Anstellung vor? Nach und nach löste sich die Starre, die Leisha gefühlt hatte, seit der Sarg ihres Vaters in der Erde verschwunden war, und sie merkte, daß Susans beharrliche Fragerei aus einem mitfühlenden Herzen kam.
»Er hat viele Leute gezwungen, sich für ihn aufzuopfern«, stellte Leisha unvermittelt fest.
»Mich nicht«, sagte Susan entschieden. »Das habe ich nur eine Zeitlang mitgemacht, als ich meine Arbeit aufgab, um bei seiner mitzuhelfen. Aber Roger hat Opfer nie
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