Bettler 01 - Bettler in Spanien
und was es sonst noch so gibt. Aber wir konnten nicht in eure Gehirne hineinsehen und feststellen, was tatsächlich da drin vor sich ging. Bis Bernie Kuhn gegen diese Böschung fuhr.«
»Susan«, sagte Leisha, »sag es mir klar und deutlich. Ohne weitere Vorrede.«
»Ihr werdet nicht altern.«
»Wie?«
»Ach ja, kann sein in kosmetischer Hinsicht ein wenig – vermutlich wird es zu einem leichten allgemeinen Absinken der Haut- und Muskelpartien kommen, ganz einfach durch die prolongierte Einwirkung der Schwerkraft. Aber das Fehlen von Schlafpeptiden und allem, was damit zusammenhängt, beeinflußt das Immun- und Geweberegenerationssystem auf eine Art, die wir noch nicht verstehen. Bernie Kuhn hatte eine makellose Leber. Eine makellose Lunge, ein makelloses Herz, makellose Lymphknoten, eine makellose Bauchspeicheldrüse, eine makellose Medulla oblongata. Nicht bloß gesund oder jung – makellos. Es ist eine verstärkte Geweberegeneration festzustellen, die eindeutig mit der Arbeit des Immunsystems zusammenhängt, aber dramatisch verschieden ist von allem, womit wir je gerechnet hätten. Bei den Organen fehlt jegliche Abnützungserscheinung, ja selbst der minimale Verschleiß, den man auch bei einem Siebzehnjährigen erwarten sollte. Sie reparieren sich perfekt selbst, ohne Unterlaß.«
»Und für wie lange?« flüsterte Leisha.
»Wer, zum Teufel, soll das schon wissen? Bernie Kuhn war noch jung, und vielleicht gibt es irgendwo einen Kompensationsmechanismus, der zu einem bestimmten Zeitpunkt einsetzt, und dann fallt ihr alle tot um, wie eine ganze Herde von Dorian Grays. Aber das glaube ich nicht. Andererseits glaube ich auch nicht, daß das mit euch bis in alle Ewigkeit so weitergeht. Keine Geweberegeneration schafft das endlos. Aber doch lange, sehr lange.«
Leisha starrte auf die unscharfen Spiegelungen in der Windschutzscheibe. Sie sah das Gesicht ihres Vaters in dem mit blauem Satin ausgeschlagenen Sarg, umgeben von weißen Rosen. Sein Herz, sein nicht regenerierbares Herz hatte versagt.
Susan sagte: »Gegenwärtig ist alles immer noch Spekulation. Wir wissen nur, daß die Peptidstrukturen, die in normalen Menschen das Schlafbedürfnis aufbauen, den Komponenten der Zellwände von Bakterien ähneln. Vielleicht existiert eine Verbindung zwischen dem Vorgang des Schlafens und der Empfänglichkeit für Krankheiten. Wir wissen es nicht sicher. Aber nicht gesichertes Wissen ist kein Grund, von reißerischen Überschriften abzusehen. Und daher wollte ich dich darauf vorbereiten, daß man euch jetzt Supermenschen nennen wird oder homo perfectus oder was weiß ich. Jedenfalls unsterblich.«
Die beiden saßen schweigend da, ehe Leisha schließlich sagte: »Ich werde die anderen informieren. Über unser spezielles Datennetz. Mach dir keine Sorge um die Geheimhaltung. Kevin Baker hat Groupnet entwickelt; niemand erfährt irgend etwas, wenn wir es nicht wollen.«
»So gut seid ihr schon organisiert?«
»Allerdings.«
Um Susans Mund begann es zu zucken. Sie wandte den Blick ab. »Wir sollten jetzt lieber reingehen. Sonst versäumst du deinen Flug.«
»Susan…«
»Ja?«
»Danke.«
»Gern geschehen.« Aus ihrer Stimme hörte Leisha jetzt das heraus, was vorhin über Susans Gesicht gegeistert war und sich jedem Deutungsversuch entzogen hatte: Kein Zweifel, es war sehnsüchtiges Verlangen.
Geweberegeneration! Für lange, lange Zeit! sang das Blut in Leishas Ohren auf dem Flug nach Boston. Geweberegeneration! Und schließlich: Unsterblich! Nein, das gerade nicht, wies sie sich streng in die Schranken; das gerade nicht. Aber das Blut in ihren Ohren hörte nicht darauf.
»Sie lächeln so glücklich vor sich hin«, sagte der Mann, der in der ersten Klasse neben ihr saß – ein Geschäftsreisender, der Camdens Tochter offenbar nicht erkannt hatte. »Sie kommen wohl von einem rauschenden Fest in Chicago!«
»Nein. Von einer Beerdigung.«
Im ersten Moment sah der Mann schockiert aus und im zweiten entrüstet. Leisha blickte aus dem Fenster hinab auf die Erde. Flüsse wie integrierte Schaltkreise, Felder wie ordentlich nebeneinandergelegte Karteikarten. Und am Horizont flockige weiße Wolken wie Unmengen exotischer Blüten in einem lichtdurchfluteten Gewächshaus.
Der Brief war nicht dicker als jeder andere, aber mit der Post gesandte und von Hand adressierte Ausdrucke waren so selten, daß Richard beunruhigt war. »Es könnte eine Bombe drinnen sein.« Leisha sah den Umschlag an, der auf der Dielenkommode lag.
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