Bettler 01 - Bettler in Spanien
Umklammerns ihres Armes hatte Leisha den absurden Eindruck, als würde er sie zum ersten Mal wirklich wahrnehmen. Sie fuhr fort, ihren Arm zu massieren, und starrte ihn entsetzt an.
Mit ruhigerer Stimme sagte er: »Ich bin hergekommen, um dich zu holen, Leisha. Nach Sanctuary. Dan Jenkins und Vernon Bulriss warten draußen im Wagen. Wir werden dich auch hinaustragen, wenn es sein muß, aber wir nehmen dich mit. Du siehst das doch ein, oder? Du bist hier nicht mehr sicher, du stehst zu sehr im Licht der Öffentlichkeit mit deinem Hintergrund und deinem blendenden Aussehen. Wenn es ein naheliegendes Angriffsziel gibt, dann dich. Müssen wir dich zwingen oder siehst du selbst ein, daß du keine andere Wahl hast – daß diese Schweine uns keine andere Wahl lassen –, als Zuflucht zu suchen in Sanctuary?«
Leisha schloß die Augen. Tony mit vierzehn, am Strand. Tony, die Augen wild und glänzend, der erste, der seine Hand nach dem Glas mit Interleukin-1 ausstreckte.
Die Bettler in Spanien.
»Ich werde mitkommen.«
Noch nie zuvor hatte sie solchen Zorn verspürt. Es erschreckte sie, wie er sie die ganze lange Nacht hindurch in Wellen durchströmte, die abebbten, doch immer wiederkehrten. Richard hielt sie an sich gedrückt, während sie mit dem Rücken an die Wand der Bibliothek gelehnt dasaßen, aber auch der feste Griff seiner Arme half nicht. Im Wohnzimmer unterhielten sich Dan und Vernon mit leiser Stimme.
Gelegentlich brach der Zorn hervor und machte sich in lautstarken Attacken Luft, und dann dachte Leisha: Ich kenn dich nicht wieder! Dann wieder wurde er zu Tränen oder zu Gesprächen über Tony und über die anderen. Weder das Herumschreien, noch die Tränen, noch die Gespräche konnten sie auch nur im mindesten beruhigen.
Ihre Pläne für die unmittelbare Zukunft konnten es – ein wenig. Mit einer kalten, trockenen Stimme, die sie selbst nicht wiedererkannte, erzählte sie Richard von dem Flug nach Chicago, um den Haushalt dort aufzulösen. Sie mußte hin; Alice war schon dort. Und wenn Dan und Vernon Leisha zum Flugzeug brachten und Alice sie nach der Landung in Chicago in Begleitung von berufsmäßigen Leibwächtern abholte, konnte ihr nichts zustoßen. Dann würde sie das Ticket für den Rückflug von Boston auf Conewango umschreiben lassen und mit Richard nach Sanctuary fahren.
»Die ersten trudeln schon ein«, sagte Richard. »Jennifer Sharifi organisiert alles. Sie schmiert die Schläferlieferanten mit derartigen Summen, daß sie nicht widerstehen können. Was geschieht mit dieser Wohnung, Leisha? Mit den Möbeln und den Computern und deinen Kleidern?«
Leisha sah sich in ihrem liebgewordenen Arbeitszimmer um. Gesetzeswerke mit rotem, grünem und braunem Rücken standen in Reih und Glied an den Wänden, obwohl fast ihr gesamter Inhalt auch im Computer gespeichert war. Auf dem Schreibtisch stand eine Kaffeetasse auf einem Ausdruck. Daneben lag die Quittung, die sie nach der Heimfahrt vor kurzem von dem Taxifahrer verlangt hatte – als unschuldiges Andenken an den Tag, an dem sie ihre Zulassungsprüfung als Anwältin geschafft hatte. Sie war entschlossen gewesen, sie rahmen zu lassen. Über dem Schreibtisch hing ein holographisches Porträt von Kenzo Yagai.
»Ach was, es soll hier verrotten«, sagte Leisha.
Richards Arm drückte sie fester an ihn.
»So habe ich dich noch nie gesehen«, stellte Alice etwas furchtsam fest. »Das kommt nicht nur vom leeren Haus, oder?«
»Komm, machen wir weiter«, sagte Leisha. Sie riß einen Anzug aus dem Schrank ihres Vaters. »Möchtest du etwas davon für deinen Mann?«
»Es würde ihm nicht passen.«
»Die Hüte?«
»Nein«, sagte Alice. »Leisha, was hast du?«
»Bringen wir’s doch einfach nur hinter uns, ja?« Sie zerrte die übrigen Kleidungsstücke aus Camdens Schrank, warf sie in einem Haufen auf den Boden, kritzelte ALTKLEIDERSAMMLUNG auf ein Blatt Papier und ließ es obenauf fallen. Schweigend ging Alice daran, die Sachen aus der Kommode, die auf einem aufgeklebten Zettel schon den Vermerk NACHLASSVERSTEIGERUNG trug, hinzuzufügen.
Die Vorhänge waren bereits im ganzen Haus abgenommen; das hatte Alice am Vortag erledigt und dazu auch die Teppiche eingerollt. Nun legte sich die Abendsonne grellrot auf den kahlen Holzfußboden.
»Wie ist es mit deinem alten Zimmer?« fragte Leisha. »Was willst du von dort haben?«
»Ich habe schon alles markiert«, sagte Alice. »Die Leute von der Spedition kommen am Donnerstag.«
»Gut. Was
Weitere Kostenlose Bücher