Bettler 01 - Bettler in Spanien
sofort wieder ab. Nach einem Moment fuhr sie mit sichtlicher Anstrengung fort: »Wenn euer Sanctuary -Rat Realität wird… schließt ihr uns damit aus. Mich und Kevin und Jean-Claude und Stella und die anderen. Wir werden kein Mitspracherecht haben, wenn es um Stellungnahmen den Medien gegenüber geht, wir werden nicht bei maßgebenden Entscheidungen mitwirken können, wir werden nicht einmal mithelfen können, die neuen Schlaflosenkinder zu betreuen, weil niemand, der den Schwur leistet, Groupnet benutzen darf, nur noch das Sanctuary -Netz… Was kommt als nächstes? Ein Boykott für Geschäftsbeziehungen mit jedem von uns?«
Jennifer antwortete nicht, und Leisha sagte langsam: »O mein Gott! Daran denkst du! Du denkst an einen wirtschaftlichen Boykott…«
»Das wäre nicht allein meine Entscheidung. Darüber müßte die ganze Sanctuary -Ratsversammlung befinden. Ich bezweifle, daß man dort einen solchen Boykott beschließen würde.«
»Aber du würdest dafür stimmen.«
»Ich habe nie zu den Yagaiisten gehört, Leisha. Ich glaube nicht an die Vormachtstellung individueller Brillanz gegenüber dem Wohlergehen der Gemeinschaft. Beide sind wichtig.«
»Hier geht es nicht um Yagaiismus, und das weißt du. Hier geht es um Herrschaft, Jennifer. Du haßt alles, was sich deiner Herrschaft entzieht – genau wie die übelsten Schläfer. Aber du gehst noch weiter. Du machst Herrschsucht zu einer Tugend, weil du Tugendhaftigkeit auch brauchst. Bei alldem hier geht es nur darum, was du, Jennifer Sharifi, brauchst. Nicht um das, was die Gemeinschaft braucht.«
Jennifer verschränkte alle zehn Finger ineinander, um ihre Hände am Zittern zu hindern, und verließ den Raum. Natürlich hatte sie es sich selbst zuzuschreiben, wenn ein anderer Mensch soviel Macht über sie besaß, daß er ihre Hände zum Zittern bringen konnte. Ein Defekt, eine Schwäche, die zu eliminieren sie verabsäumt hatte. Ein Versagen. Auf dem Flur stießen ihre Kinder, die aus dem Spielzimmer rannten, gegen sie.
»Mama! Komm und schau, was wir gebaut haben!«
Jennifer legte jedem von ihnen eine Hand auf den Kopf. Irgendwo in Najlas krausem Haar spürte sie einen Knoten. Rickys Haar hingegen, das dunkler und feiner als das seiner älteren Schwester war, fühlte sich an wie kühle Seide. Jennifers Hände hörten auf zu zittern.
Die Kinder sahen ins Wohnzimmer. »Tante Leisha! Tante Leisha ist da!« Ihr Haar glitt unter Jennifers Händen weg. »Tante Leisha, komm und schau, was wir mit dem CAD-Programm entworfen haben!«
»Gleich, Kinder«, hörte Jennifer Leishas Stimme sagen, »ich komme gleich. Ich möchte nur eure Mutter noch etwas fragen.«
Jennifer drehte sich nicht um. Wenn der Verräter Leisha den Text des Solidaritätsschwures gesandt hatte, was hatte er ihr dann noch gesandt?
Doch alles, was Leisha sagte, war: »Hat Richard die Vorladung für den Fall Simpson gegen Küstenfischerei erhalten?«
»Ja. Hat er. Er ist soeben dabei, sein Sachverständigengutachten vorzubereiten.«
»Gut«, sagte Leisha kühl.
Ricky sah von Leisha zu seiner Mutter. »Mama… soll ich Papa holen? Tante Leisha wird mit Papa reden wollen… oder?« Seine Stimme hatte einiges von ihrem Überschwang eingebüßt.
Jennifer bedachte ihren Sohn mit einem Lächeln. Sie spürte die Fülle ihres eigenen Lächelns, überquellend vor Erleichterung. Die Fischrechte für die Küstengebiete – Leisha tat ihr fast leid; ihre Tage wurden von solchen Banalitäten in Anspruch genommen. »Ja, natürlich, Ricky«, sagte sie und wandte die Überfülle ihre Lächelns Leisha zu, »geh und hol deinen Vater. Tante Leisha will auch ihn besuchen. Natürlich will sie auch ihn besuchen.«
9
»Leisha«, sagte die Empfangsdame in ihrer Anwaltspraxis, »dieser Herr wartet schon seit drei Stunden auf Sie. Er hat keinen Termin. Ich sagte ihm, daß Sie heute möglicherweise überhaupt nicht mehr zurückkämen, aber er wollte trotzdem warten.«
Der Mann erhob sich, ein wenig steif, wie jemand, der zu lange in ein und derselben Stellung dagesessen hatte. Er war klein und schlank, ja schmächtig, und trug einen verknitterten braunen Anzug, der weder besonders billig noch besonders teuer aussah. In einer Hand hielt er ein vom Kiosk stammendes, zusammengefaltetes Boulevardblatt. Schläfer, dachte Leisha. Sie wußte es immer.
»Leisha Camden?«
»Es tut mir leid, aber ich kann keine neuen Fälle übernehmen. Wenn Sie einen Anwalt brauchen, müßten Sie sich an ein anderes Büro
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