Bettler 02 - Bettler und Sucher
so hatte man sie bei ihrer Herstellung programmiert. Um ein einzigartiges Muster an einem altmodischen Hochzeitskleid zu ergeben.
Um einen Code zu ergeben.
Peg hatte sich wieder gefangen. Mit ausdruckslosem Gesicht, jetzt jedoch roten Augen, stieß sie das zerfetzte Stückchen Spitze in die Tasche ihres grauenhaft unkleidsamen türkisfarbenen Overalls. Ihre Lippen zuckten gequält. Keinerlei mitfühlende Formen glitten durch mein Inneres. Peg wußte nicht, was Schmerz war. Peg hatte nicht gesehen, wie Leisha starb, mit Schlammspritzern auf ihrer dünnen gelben Bluse und zwei kleinen roten Flecken auf der Stirn.
»Los, weiter!« sagte sie ungeduldig, als wäre ich derjenige gewesen, der die Schuld an dem kurzen Aufenthalt trug.
Ein Code. Die Spitzenstücke waren Teil eines Codes, an einem Ort, wo jedes Wort, jede Bewegung, jede zufällige Begegnung überwacht wurde. Und alle waren gefordert, penibel ›ordentlich‹ zu sein, weil Brigadegeneral Francis Marion der penibelste Hurensohn war, der je der britischen Armee gegenüberstand.
Wie viele Leute waren darin verwickelt? Abigail und Joncey, höchstwahrscheinlich. Wer stand ihnen zur Seite gegen Hubbley? Hatten sie draußen jemanden?
Wieder sah ich den grauen Behälter vor mir. EIGENTUM DER U.S.-ARMY. STRENG GEHEIM! VORSICHT, GEFÄHRLICH!
»Na, siehste!« schnaubte Peg, als wir wieder im Gemeinschaftsraum angelangt waren, »jetz’ hast du alles gesehen. Gibst du jetz’ endlich Ruhe?«
»Mir ist langweilig, wenn ich Ruhe gebe«, sagte ich. »Machen wir noch eine Runde.« Ich hörte sie hinter mir fluchen, als ich mit meinem primitiven Rollstuhl losfuhr.
Drei Tage später, drei Tage pausenloses Herumfahren später, öffnete sich die Tür zu Jimmy Hubbleys Quartier, und er und Abigail kamen heraus. Als Abigail Peg erblickte, sah sie zu Boden, lächelte und tat so, als würde sie den Zipp ihres Overalls das letzte Stück hochziehen.
Peg ging hinter mir her, also konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, aber ich sah ihre Hände, grobschlächtig und rauh auf den Griffen des Rollstuhles. Die Art, wie ihre Finger sich fester darum schlossen – kontrolliert, ohne Hast –, verrieten mir, daß sie von der Sache zwischen Abigail und Hubbley wußte. Klarerweise. Alle würden es wissen, so etwas konnte man an einem Ort wie diesem nicht geheimhalten. Und Joncey mußte es wohl akzeptieren. Vielleicht brachte es seine und Abigails Pläne für eine Konterrevolution voran. Vielleicht dachte er auch, Hubbley verbreitete seine Gene eben in der einzig erlaubten, natürlichen Art und Weise, um das menschliche Genom zu stärken. Vielleicht dachte Hubbley sogar, er würde Francis Marions Gene verbreiten – unter allen hübschen Soldatinnen mit Willen und Ideal.
»Abend, Peg«, sagte Hubbley. Abigail lächelte dazu sittsam und bescheiden. Sie machte eine Form in meinem Kopf: Blumen mit winzigen, tödlichen Zähnen in ihrem sonnengelben Mittelpunkt.
»Abend, Major Hubbley«, würgte Peg hervor. Ich wußte gar nicht, daß er befördert worden war.
Aber jetzt hatte ich ihn.
Beim Abendbrot war der Gemeinschaftsraum voll. Abigail saß mit ihren Freunden zusammen, lachte und nähte an ihrem weißen Hochzeitskleid aus Spitzen. Ihr Gesicht sah gerötet aus und übermütig. Oben in der Welt, die ich jetzt nur noch vom HT her kannte, wurde es November. Siebenundsechzig Tage unter der Erde, und Miranda war nicht gekommen.
Zusammen mit einer Gruppe sah Joncey zwei Männern beim ›Teufeln‹ zu. Die zwölfseitigen Würfel aus glänzendem Metall blitzten auf, als sie über die Köpfe hinwegflogen. Alle kreischten und lachten. Peg hockte in sich zusammengesunken auf dem Stuhl, das Gesicht ausdruckslos, die unförmigen Hände schlaff auf den Knien. Ich verlangte Papier und Stift, was erst ihr Mißtrauen erweckte und dann ihren Abscheu.
»Was willst du damit? Hast doch ohnehin das Bibliotheks-Terminal, du!«
»Ich möchte was aufschreiben.«
»Kannst es doch dem Terminal sagen, wenn du was aufzeichnen willst!«
»Ich will es aber aufschreiben. Auf Papier.«
Ihr Mißtrauen vertiefte sich. »Du kannst schreiben?«
»Ja.«
»Dachte, Major Hubbley, der sagte, du bist kein Macher nich’!«
»Ich war in Macher-Schulen. Ich kann schreiben. Kannst du lesen?«
»Klar kann ich lesen.«
Vermutlich konnte sie es, zumindest ein bißchen. Nutzer-Kinder lernten üblicherweise ein paar wichtige Wörter lesen, aber kaum je schreiben. Man mußte ja die Beschriftungen auf den Packungen im Lagerhaus
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