Bettler 02 - Bettler und Sucher
einen Sumpf aus guten Absichten, ethischen Zweifeln, begrenztem Verständnis, persönlichen Leidenschaften und ihm vom Staat auferlegten Einschränkungen dessen, was er im Zeugenstand sagen durfte und was nicht.
»Diese Information unterliegt der Geheimhaltung«, wurde seine monotone Antwort auf die Fragen von Miranda Sharifis Verteidiger, der ganz gewiß der frustrierteste Mensch auf dem ganzen Erdenrund war. Arlen saß in seinem HighTech-Rollstuhl, keine Regung im dem alternden Nutzer-Gesicht. »Mister Arlen, wo waren Sie zwischen dem 28. August und dem 3. November?«
»Diese Information unterliegt der Geheimhaltung.«
»Mit wem sprachen Sie über die angeblichen Aktivitäten von Miss Sharifi im Norden des Staates New York?«
»Diese Information unterliegt der Geheimhaltung.«
»Bitte beschreiben Sie die Vorkommnisse, die Ihrer Entscheidung, die AEGS über die Aktivitäten von Huevos Verdes zu verständigen, vorangingen.«
»Diese Information unterliegt der Geheimhaltung.«
Wie im Krieg.
Aber nicht in meinem Krieg. Ich war von der Front abgezogen worden, für immer abgezogen mit Stumpf und Stiel und Netzhautabdruck von allen außer den gängigsten Datenbanken. Dreimal im Lauf des letzten Jahres hatte man mich aufgelesen, nach Albany verfrachtet und betäubt, um Biomonitoren in die Lage zu versetzen, den Wissenschaftern dort – die sich sehr wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt schon selbst ihre Spritzen verabreicht hatten – ungestört alle meine Geheimnisse zu verraten. Keines der Ergebnisse, zu denen die Biomonitoren kamen, wurde mir je mitgeteilt. Ich war eine Ausgestoßene von Staats wegen.
Warum also verlor ich auch nur einen einzigen Gedanken an den Umstand, daß die Vereinigten Staaten als solche nahe daran waren, nicht mehr zu existieren? Warum sollte mich das auch nur im geringsten kümmern?
Ich weiß es nicht. Aber es kümmerte mich. Vielleicht war ich eine Närrin. Vielleicht eine Romantikerin. Vielleicht war ich bloß eigensinnig. Vielleicht ein bewußter, selbstgeschaffener Anachronismus.
Vielleicht war ich eine Patriotin.
»Billy«, sagte ich, als wir nebeneinander über die endlose Gravbahn-Trasse durch die endlosen Hügelketten von Pennsylvania trotteten, »Billy, sind Sie immer noch Amerikaner?«
Er bedachte mich mit dem gewissen Billy-Blick: intelligent, aber ohne den leisesten Schimmer, was das Vokabular bedeutete. »Ich? Ja, klar.«
»Werden Sie auch noch Amerikaner sein, wenn Sie von irgendeinem verzweifelten Rest eines gesetzestreuen Macher-Kommandos in Oak Mountain umgebracht werden?«
Es dauerte eine Minute, bis er es sich überlegte hatte. »Ja.«
»Werden Sie auch noch Amerikaner sein, wenn Sie beim Angriff irgendeiner puristischen Untergrundbewegung von Nutzern, die finden, Sie haben sich dem genetischen Feind verkauft, ums Leben kommen?«
»Ich werd’ nich’ ums Leben kommen«, protestierte er. »Nich’ deswegen, weil mich andere Nutzer umbringen!«
»Aber wenn es so wäre, würden Sie als Amerikaner sterben?«
Er verlor die Geduld. Seine alten Augen mit der jungen Energie darin musterten die anderen Wanderer rundum und hielten nach Lizzie Ausschau. »Ja.«
»Wären Sie immer noch ein Amerikaner, wenn es gar kein Amerika mehr gäbe? Keine zentrale Regierung und niemanden, der die Regierungsgeschäfte wahrnähme; wenn die Verfassung vergessen und die Macher von einer revolutionären Untergrundbewegung ausgemerzt wären und Miranda Sharifi in einem Gefängnis verschimmelt, das ausschließlich von Robotern verwaltet wird?«
»Vicky, Sie denken zuviel, ehrlich, das tun Sie«, sagte Billy. Er wandte mir seine Sorge zu, jene Sorge, die der Nächstenliebe entsprang und von der ich so lange schon lebte – ich, eine Ausgestoßene aller Kasten. »Denken Sie lieber daran, ob wir am Leben bleiben. Das wär’ vernünftig. Aber Sie können sich nich’ ums ganze Land kümmern, das können Sie nich’!«
»Der Mensch, bemerkte Charles Lamb einmal, kann sich in alles und jedes verlieben. Nennen Sie mich einfach eine Patriotin, Billy. Glauben Sie nicht an Patriotismus?«
»Ich…«
»Außerdem habe ich einmal miterlebt, wie ein GenMod-Hündchen von einem Balkon in den Tod stürzte.« Aber Billy hatte plötzlich Annie entdeckt. Er lächelte mir zu und verließ mich, um an der Seite seiner Angebeteten weiterzuwandern, deren Kleid unaufhaltsam von ihrem ausladenden Körper konsumiert wurde. Sie sah aus wie eine Fruchtbarkeitsgöttin, die verschlafen hatte, daß die industrielle
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