Bettler 03 - Bettlers Ritt
Umstellungs -Spritzen gestohlen, zweiundfünfzig Tote. Wiederum Bilder nicht umgestellter Kinder in Texas, die an irgendeinem namenlosen Virus oder Toxin starben. Präsident Garrison, der den Notstand ausrief, der von den fast unabhängigen, selbstverwalteten Enklaven ignoriert werden würde. Weitere flehentliche Bitten um zusätzliche Umstellungs -Spritzen an Miranda Sharifi auf Selene. Eine neue bizarre religiöse Sekte in Virginia, bemerkenswert deswegen, weil sie diesmal aus Machern bestand und nicht aus Nutzern wie sonst. Die Sekte glaubte daran, daß Jesus Christus die Erde auf die Rückkehr der Engel vom Orionnebel vorbereitete.
Jennifer verfolgte alles gelassen und gestattete ihren Emotionen nicht, sich in ihrer Miene zu zeigen. Was hatte Miranda vor? Miranda hatte dem Feind die Umstellung geschenkt – warum nahm sie sie ihm jetzt wieder weg?
Wankelmütige, inkonsequente Menschen waren gefährlich. Man konnte ihre Handlungsweise nicht im voraus blockieren.
»Dreißig Minuten«, sagte das Terminal in der Ecke.
»Jennifer, es ist Zeit für das zweite Eindringen«, sagte Will. Seine Stimme klang hoch und gepreßt. Jennifer schaltete die Nachrichtenkanäle ab.
Diesmal war das Ziel eine reiche Enklave außerhalb der Hauptkuppel von St. Paul, Minnesota. Die Enklave wurde in erster Linie von Techs bewohnt, die dafür sorgten, daß der Maschinenpark der Stadt funktionsfähig und ordnungsgemäß programmiert blieb. Techs, GenMods mit höchstem fachlichem Können, waren Teil der Macher-Ökonomie, doch nie Entscheidungsträger. Die Kamera am ferngesteuerten Fluggerät zeigte Reihen kleiner, schmucker Häuser unter einer Energiekuppel, GenMod-Rasen und GenMod-Blumen, einen Spielplatz, eine Kirche und ein Gemeindezentrum. Der Y-Schild ließ Vögel nicht durch. Techs interessierten sich nicht sonderlich für Vögel.
Nichtsdestoweniger durchflog das zweite Fluggerät den Schild genauso mühelos, wie das erste in die wohlhabende Pensionärsenklave am Pazifik eingedrungen war. Lautlos löste sich das Fluggerät auf, und lautlos legte sich der Virusnebel über Häuser und Spielplatz.
Techs arbeiteten für ihren Lebensunterhalt. Man konnte sie nicht so ängstlich machen wie Nutzer, sonst würden sie sich weigern, ihre kleine Enklave zu verlassen, und nicht zur Arbeit erscheinen. Doch Strukow hatte aus den sechzehn Nutzer-Tests gelernt und sein Produkt verfeinert. Diese Version hier war raffinierter.
Aber genauso schwer nachzuweisen in der biochemischen Analyse. Nicht einmal den Sharifi-Labors war das gelungen. Das Virus löste die Produktion und den Ausstoß einer biogenen, im Gehirn natürlich vorkommenden Aminosäure aus, die wiederum die Produktion und den Ausstoß einer anderen verursachte, welche auf unterschiedliche Rezeptoren einwirkte und weitere elektrochemische Reaktionen hervorrief… es war eine lange und wirre Kette zerebraler Vorgänge. Das Endresultat würde dergestalt ausfallen, daß die Techs, ohne es direkt wahrzunehmen, dem Altbekannten schließlich einfach den Vorzug gaben: Routinetätigkeiten, die sie beherrschten, Gesichter, die sie täglich sahen, Aufgaben, die sie schon tausendmal gemacht hatten. Der alte Freund, der ausgetretene Gedankenpfad, die konventionelle Einstellung, der amtierende Politiker. Es würde einfach zu beunruhigend sein, etwas in Gang zu setzen oder zu lernen oder sich zu ändern.
Und dann würden Jennifer Sharifi und ihre Getreuen in Sicherheit sein. Besser der Teufel, den du kennst, als der, den du nicht kennst.
In Sicherheit. War das wirklich möglich? Es hatte Zeiten gegeben, damals im Bundesgefängnis von Allendale, als sie die Hoffnung aufgegeben hatte, sich je wieder sicher fühlen zu können – oder die Ihren in Sicherheit zu wissen. Ihre vorangegangenen Bemühungen, die Schlaflosen zu schützen, waren nicht genügend durchdacht und zu naiv gewesen: Sanctuary war zwar losgelöst von der Erde, aber verwundbar, wie alle Orbitalstationen; die finanzielle Kraft war vorhanden, aber nicht ausreichend für einen wirksamen Schutz; und letztlich die Abtrennung von einer korrupten Regierung, die zwar gelang, jedoch mit Hilfe von terroristischen Akten, die so offenkundig Aufmerksamkeit auf sich zogen, daß sie zum Scheitern verurteilt waren.
Diesmal würde es anders sein. Keine Drohungen mit biologischen Waffen. Keine Forderungen nach Freiheit. Keine weltweite Ausstrahlung von Sendungen in dem Versuch, den Feind zu einer Einsicht zu bringen, zu der er nicht fähig war. Nein.
Weitere Kostenlose Bücher