Bettler 03 - Bettlers Ritt
Diesmal heimliches Vorgehen und Stagnation. Lassen wir die Welt in biologischer Inhibition erstarren, aber so sachte, daß niemand das geringste merkte. Will hatte recht – sie würden nie erfahren, was über sie gekommen war.
Ausgenommen siebenundzwanzig Menschen.
Diese siebenundzwanzig konnten Jennifer Einhalt gebieten, wenn sie es wollten. So wie sie es bereits einmal gewollt hatten. Daß sie noch nicht eingegriffen hatten, bedeutete vielleicht, daß ihre eigenen komplexen und listigen Pläne mit jenen Jennifers bis zu einem gewissen Punkt konform gingen… konnte das wahr sein? Was hatte Miranda vor?
Was es auch immer war, Jennifer würde nicht zulassen, daß es ihre eigenen Pläne zerschlug. Sie konnte es nicht zulassen.
Das war der schmerzlichste Part für Jennifer: keine Wahlmöglichkeiten zu haben. Miranda war ihre Enkelin, Toshio Ohmura ihr Großneffe, Nikos und Christina waren die Enkel ihres ältesten Freundes; Jennifer konnte ihnen einfach nicht den Rücken zukehren, ohne dabei Schmerz zu empfinden. Das war es doch, was die Schläfer taten: sie zerstörten die Bande der Verwandtschaft, zerstörten die Gemeinschaft selbst, ohne dabei ein Gefühl des Verlustes zu empfinden. Und dieses abgetötete Ich war es, gegen das Jennifer ankämpfte.
Wie auch immer – sie hatte keine Wahl. Nicht, wenn sie die Ihren in Sicherheit wissen wollte.
Sie spürte Wills Hände auf ihren Schultern. »Jenny – es ist Zeit«, sagte er, und sie dachte, er hätte das schon einmal gesagt, aber plötzlich war sie sich nicht mehr sicher. Sie hatte das Terminal in der Ecke nicht gehört. Einen Moment lang verschwamm der Raum vor ihr. Sie schloß die Augen.
»Dreißig Sekunden«, sagte das Terminal.
Jennifer zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Der Bildschirm war hell. Keine Kamera auf einem Fluggerät, diesmal. Die versteckte Überwachungskamera befand sich in anderthalb Kilometern Entfernung und zeigte nur eine leere, öde Landschaft – und dann, herangezoomt, den schwachen Schimmer eines Y-Schildes. Nein, kein Y-Schild, sondern etwas völlig anderes, entworfen von einem genialen Geist, dem es niemand gleichtun konnte. Etwas, das kein Fluggerät je durchdringen konnte.
»Zwanzig Sekunden.«
Wills Finger gruben sich in ihre Schultern. Jennifer dachte daran, die Hände abzuschütteln, aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie konnte nicht denken. Ihr Geist, dieses Präzisionswerkzeug, war verstopft mit konfusen Dämpfen, die von den neuen Daten über Selene hochstiegen, welche Caroline Renleigh Jennifer gebracht hatte. Selene, wo sich die Verräterin Miranda Sharifi vor der Welt versteckte.
Ihre Enkeltochter Miranda. Richards Tochter. Richard, ihr Sohn, der damals den Entschluß gefaßt hatte, sich Miranda bei dem Verrat an seiner eigenen Mutter zur Seite zu stellen. Richard, der jetzt zusammen mit Miranda dort war.
»Zehn Sekunden.«
Sie konnte sich nicht an Richard als Baby erinnern. Sie war so jung gewesen und so beschäftigt damit, Sanctuary zu erschaffen, und sie war noch nicht bewandert in der Disziplin, sich an alles zu erinnern. Doch an Mirandas Kindheit erinnerte sie sich. Miranda mit ihren dunklen Augen und dem widerspenstigen schwarzen Haar, wie sie hinauslachte zu den Sternen, als Jennifer sie in eben diesem Raum zum Fenster hochhob… Miranda.
Miri…
»Nein!« schrie Jennifer, und ihr Schrei übertönte die ausdruckslose Stimme des Terminals in der Ecke.
»Es ist vorbei, Jenny«, sagte Will leise. »Es ist vorbei.« Aber Jennifer weinte, schluchzte so heftig, daß sie kaum hörte, wie das System hinzufügte: »Operation in New Mexico beendet.« Später würde sie sich ihr Schluchzen übelnehmen, und sie würde Will übelnehmen, daß er es gesehen hatte. Es war ein Schlag für ihre Selbstdisziplin, aber nun weinte sie wie eine Zweijährige, weil es so nicht hätte sein dürfen, weil die Wahlmöglichkeiten nicht so schmerzhaft hätten sein dürfen. Die gräßlichen Wahlmöglichkeiten des Krieges.
Miri…
Will hielt sie fest wie ein verängstigtes Kind, und noch durch ihr Schluchzen und ihre Verärgerung und ihre unentschuldbare Schwachheit hindurch wußte sie, daß sie Will Sandaleros, so lange er in seiner verachtenswerten Zärtlichkeit dies hier für sie tat, um sich haben wollte.
14
Der Lichtschein auf dem Gesicht weckte Theresa, und sie schrie auf.
Einen Augenblick später entsann sie sich, wo sie war: zusammengesunken auf der Fensterbank am Ende des Korridors in der oberen Etage – seit
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