Bettler 03 - Bettlers Ritt
beruhigenden leichten Ausbuchtung des Personenschildes an ihrem Gürtel. Der Schild war aktiviert. Der schwache Schimmer rund um ihre Hände war deutlich zu sehen. Die Männer dort konnten ihr nichts anhaben, selbst wenn sie sie einfangen sollten. Äußerstenfalls konnten sie den Schild ein Weilchen herumschubsen, mit ihr darin gefangen wie ein Würstchen in der Haut. Lizzie erinnerte sich an Würstchen. Annie hatte sie immer selbst gemacht. Würstchen… wie kam sie denn jetzt bloß auf Würstchen? Das Mädchen dort um die Ecke wurde gerade… und es gab nichts, was Lizzie für sie hätte tun können! Sie konnte sich nicht einmal selbst helfen, indem sie im Innern des Gebäudes, hinter dem sie sich versteckte, Zuflucht suchte, denn das Gebäude war – wie alle anderen in dem aufgelassenen Gravbahn-Verschiebebahnhof – mit einem Y-Schild versehen. Sie preßte ihren eigenen Schild fest an den des Hauses.
Das Mädchen schrie.
Lizzie machte die Augen fest zu, aber sie konnte das Mädchen dennoch hinter ihren geschlossenen Lidern sehen. Sie konnte alles sehen: das Mädchen, nackt und an Pflöcken festgebunden auf dem Boden liegend, die vier Männer und den Rest des Stammes in einiger Entfernung. Und andere Frauen, die das Geschehen ignorierten, weil das Mädchen von einem anderen Stamm geraubt und nicht eine von ihnen war. Und Kinder, die den vier Männern neugierig zusahen…
Wie konnten sie nur? Wie konnten sie nur!
»Jetz’ haste genug!« sagte einer der Männer. »Komm hoch, müssen weiter, wir. Jetz’ spürt se dich eh nich’ mehr, Cal.«
»Gib ihm noch ‘ne Minute, Ed! Alte Knacker, die brauchen ihre Zeit!«
Wieherndes Gelächter.
Und was, wenn eines dieser neugierigen Kinder um die Ecke kam und Lizzie sah? Sie konnte es packen und ihm eins über den Schädel geben, bevor es die anderen rief.
Nein, das konnte sie nicht. Ein kleiner Junge, so wie Dirk in ein paar Jahren sein würde… sie würde es nicht über sich bringen. Wie undurchdringlich war so ein Personenschild eigentlich? Sie trug den von Vicki nun seit zwei Wochen, und sie wußte es immer noch nicht. Er hielt jedenfalls Insekten, Waschbären, Regen und Dornen ab. Das waren die einzigen Tests, denen sie ihn unterzogen hatte.
»Komm jetz’ Cal!« schrie einer der Männer. »Wir ziehen alle los!«
Lizzie hörte, wie der Stamm hinter dem Gebäude vorbeizog. Siebzehn, zwanzig, fünfundzwanzig. Sie trugen zerfetzte Overalls und schleppten Planen und Wasserkanister. Keine Y-Kegel, keine Terminals, soweit Lizzie sehen konnte. Vier dreckige, umgestellte kleine Kinder, aber keine Babies. Sobald sie alle außer Sicht und Hörweite waren, wagte Lizzie sich hinter dem Gebäude hervor.
Das Mädchen war tot. Blut aus ihrer durchschnittenen Kehle sickerte in die Erde. Ihre Augen standen weit offen, und ihre Gesichtzüge waren schreckverzerrt. Sie war etwa so alt wie Lizzie, nur kleiner und mit hellerem Haar. An einem Ohrläppchen hing ein kleiner herzförmiger Ohrring aus Blech.
Ich kann sie nicht einmal begraben, dachte Lizzie. Das Erdreich war hart, denn es hatte seit einer Woche nicht geregnet, und Lizzie hatte nichts bei sich, womit sie hätte graben können. Und wenn sie noch lange hier herumstand, würde sie den Mut für die Brücke verlieren. O Gott, und was, wenn diese Leute auch über die Brücke wollten? Wenn sie sie dort zu fassen bekamen?
Nein, das würde sie verhindern. Sie war nicht so hilflos wie dieses Mädchen. Und es wäre ohnehin keine gute Idee gewesen, sie zu beerdigen, selbst wenn Lizzie es gekonnt hätte: Der Stamm des Mädchens mochte sie suchen, und dann war es besser, man wußte dort, was mit ihr geschehen war, denn sonst würden sich diese Leute ewig fragen, ob sie wohl noch lebte oder nicht. Das wäre viel grausamer, fand Lizzie, und wenn es sich um Dirk handelte…
Sie schob den widerlichen Gedanken weit von sich, kniete sich auf den blutdurchtränkten Boden, band Füße und Hände des Mädchens los und zog die Holzpflöcke aus dem Erdreich. Wenigstens das konnte sie ihren Leuten ersparen… Dankbar für den Schild, der sie vor dem Kontakt mit dem strömenden Blut schützte, hob Lizzie das tote Mädchen hoch und stolperte damit in den Schatten des Gebäudes. Sie rollte den Leichnam dicht an den Y-Schild heran und bedeckte den Körper mit einem Hemd aus ihrem Rucksack; die Ärmel verknotete sie leicht um die Mitte der Toten, damit der Wind es nicht wegwehen konnte.
Und dann machte sie sich auf den Weg zur Brücke –
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