Bettler 03 - Bettlers Ritt
Er untersuchte das Kind mit seinem Monitor und legte es dann, blutig und schmierig, wie es war, auf die Brust seiner Mutter. Wieder war der Verschlag voller Menschen; bei den Nutzern gab es so was wie eine Intimsphäre offenbar nicht. Er holte die Plazenta, schnitt die Nabelschnur durch. Und zog eine Umstellungs -Spritze aus der Tasche.
Ein kollektives »Aaaahhhhhh« ging durch die Zuschauer. Überrascht sah Jackson hoch.
Mit einer Stimme, die völlig anders klang als alles, was er zuvor von ihr gehört hatte, sagte Vicki: »Sie haben eine!«
»Eine Umstellungs -Spritze? Natürlich…« Und da traf es ihn plötzlich wie ein Blitzschlag: »Ihr habt keine. Außerhalb der Enklaven.«
»Unsere Geburtenrate ist höher als die eure«, erklärte Vicki bitter. »Und unsere Vorräte waren geringer. Als es vor ein paar Jahren plötzlich keine Spritzen mehr gab, habt ihr Macher so viele gehortet, wie nur möglich.«
»Dann können eure Kinder also…«
»Krank werden. Manche, jedenfalls. Sie können sterben. Wissen Sie denn nicht, daß es regelrechte bewaffnete Kämpfe um die noch vorhandenen Spritzen gibt?«
Natürlich wußte er das. Aber es im InfoNetz zu sehen war etwas anderes, als diesem jämmerlichen Haufen Menschen, die die Spritze mit hungrigen Augen anstarrten, von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, ihre Anspannung zu spüren, ihre verzweifelte Gier zu riechen. Rasch sagte er: »Wie viele nicht umgestellte Kinder gibt es in eurer… eurem Stamm?«
»Noch keines. Aber wir haben nur noch eine Spritze; sie war für Lizzies Kind vorgesehen. Doch nach der nächsten Schwangerschaft… Und wie viele haben Sie noch, Jackson?«
»Noch drei…« Beinahe hätte er hinzugefügt: bei mir, hielt aber rechtzeitig inne. »Ihr könnt sie haben.«
Er gab dem Baby die Injektion, und es fing wie erwartet an zu schreien. Von irgendwo außerhalb Lizzies Kämmerchen rief eine rauhe Männerstimme: »Macher-Bullen kommen!«
Vicki lächelte Jackson zu. Das Lächeln überraschte ihn: offen, müde und doch irgendwie kameradschaftlich, als ob die Entbindung von Lizzies Baby und das Übergeben der übrigen Spritzen das Verhältnis zwischen Jackson und dem Nutzer-Stamm völlig verändert hätte. Er brauchte eine Minute, um zu erkennen, daß das Lächeln nur aufgesetzt war. Aber sie sagte mit leiser Stimme: »Sie werden zusehen, wie dieses Luder Ihre Patientin festnehmen läßt, Jackson?«
Lizzie lag da und lachte hysterisch über ihr Baby – entweder hatte die Herstellerfirma des Neuropharms zuviel Stimmungsaufheller auf die Pflaster getan, oder Lizzie war ein extrem mütterlicher Typ. Das Kleine jaulte kräftig. Die Umstehenden schrien und diskutierten in dem beengten Raum, einige gratulierten Lizzie, andere warfen mit verbalen Drohgebärden gegen die einlangenden Polizisten um sich (lächerlich – die Beamten würden bewaffnet und abgeschirmt wie Festungen sein!), und der Rest erkundigte sich immer noch hartnäckig, warum es keine neuen Y-Kegel gab. Der Geruch der zusammengepferchten Menschen war überwältigend. Jackson sah Vicki lächeln und dachte an Cazies Wut und ihren Spott, der sich immer über ihn ergoß.
Im Schutz des Lärmes sagte Vicki: »Sie haben vorhin erwähnt, daß Sie über zwei Drittel von TenTech stimmberechtigt sind – über Ihr Drittel und das Ihrer Schwester. Sie könnten die Anzeige auch fallenlassen.«
»Und warum sollte ich das tun?«
Mit einer einzigen Handbewegung antwortete sie ihm: auf das Baby, auf den kalten Verschlag, die zerlumpten Nutzer, das Durcheinander und die Polizisten, die bereits hinter der Mauer von Menschen stehen mußten, die zwar biologisch unempfindlich waren gegen Krankheiten und Hunger, aber nicht gegen Kälte oder Gewalt oder die Habgier anderer Menschen. Plötzlich dachte er an Ellie Lester, die fand, daß Eingeborene, zweitklassige Menschen, Sklaven – Nutzer – so furchtbar komisch waren. Die meinte, Machtlosigkeit wäre etwas Lustiges. Im Unterschied zu Cazie, die das nur einfach für langweilig hielt.
»Ja«, sagte er, »ich lasse die Anzeige fallen.«
»Ja«, nickte Vicki und hörte auf zu lächeln. Sie kniff die Augen zusammen und sah ihm so eindringlich ins Gesicht, als würde sie überlegen, welchen Nutzen er als nächstes für sie alle haben konnte.
4
Heute, dachte Theresa. Heute ist der Tag! Sie lag im Bett an diesem frühen Morgen und spürte, wie sich die vertraute dunkle Wolke über ihr Gemüt herabsenkte. Schwer, ekelhaft, hoffnungslos. »Der
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