Bettler und Hase. Roman
finnischen Arbeitszeitbestimmungen zu unterwerfen, ganz zu schweigen von Gewerkschaftsforderungen und Betriebsräten. Die bedeutsamsten Gebäude der Menschheit waren schon immer von Leuten gebaut worden, die anderswoher kamen, von Sklaven, Gastarbeitern und Ureinwohnern. Finnen, Indianern, Chinesen. Zwar sollten die Arbeitskräfte nicht ausgebeutet werden, aber man würde den Lohn ihrer jeweiligen Ausgangssituation anpassen. Sechs Euro holen einen finnischen Arbeitslosen nicht von der Couch, außer wenn es darum geht, die Summe in eine Sportwette zu investieren. Einen Esten hingegen bringen sechs Euro Stundenlohn dazu, seine Familie zu verlassen, in einem Wohnwagen zu hausen und vierzehn Stunden am Tag zu arbeiten.
Inzwischen näherte sich das Projekt der Halbzeit. Laster fuhren durchs Tor hinein, durchs Tor hinaus, Kräne zerteilten den Himmel und bewegten Fertigelemente an ihren Platz.
Vatanescu kroch aus dem Gebüsch auf die schlammige Straße. Vor ihm ragte ein großes Schild auf: HIER BAUT NSDAC ANSTELLE EINES NATIONALPARKS DEN NATIONAL - IDEA - PARK . FERTIGSTELLUNG BIS FRÜHJAHR 2013 .
Vatanescu schüttelte den Schmutz von den Kleidern und versicherte sich, dass es dem Kaninchen gutging. Es zitterte und legte die Ohren an.
Wir haben es nicht eilig.
Komm erst mal zur Ruhe.
Keine Angst. Wir halten den Laster an, der da kommt.
Vatanescu trat mitten auf die Straße und streckte die Arme nach vorn aus. Der Scania-Lkw bremste und kam eine Elle vor Vatanescu zum Stehen. Am Steuer saß ein Mann namens Öunap, der in seinem früheren Leben estnischer Kleingauner gewesen war: Schmuggel von Zigaretten und Alkohol nach Finnland, dubiose Autogeschäfte und sehr geringe Steuerzahlungen.
So ging das eine Zeitlang, bis die Länder und Völker sich konsolidierten und Öunap sich verliebte, heiratete, sich fortpflanzte und schwor, seine Familie anständig zu ernähren. In Finnland gab es zur Jahrtausendwende und kurz danach auf dem Bau mehr Arbeit als genug, und nach und nach sparte sich Öunap das Kapital für eine eigene Firma an.
»Öunaps Blech und Beton« hatte in Estland einen guten Start gehabt, aber bald war alles den Bach hinuntergegangen. Konjunkturschwankungen plus internationale Finanzkrise = Konkurs von »Blech und Beton«. Da half nichts, als wieder nach Finnland zu gehen und für einen Minimallohn die Arbeit zu machen, die man bekam. Was dabei heraussprang, war immer noch besser als die runzligen Scheine in der Heimat.
Jetzt regte sich Öunap in seinem Laster jedoch mächtig auf. Er schlug gegen die Scheibe, drückte auf die Hupe, kurbelte das Fenster herunter und fluchte in allen Sprachen, die er konnte. Vatanescus Gehör war allerdings noch immer weg.
Holen wir die Beeren. Du kriegst dreißig Prozent.
Der Lkw-Fahrer reckte seinen Oberkörper aus dem Fenster, packte Vatanescu an den Ohren und schüttelte ihn kräftig, worauf Sand, Moos und kleine Steine aus den Ohrmuscheln rieselten. Das Gehör kehrte zurück, und sofort drang der Soundteppich des Weltuntergangs, dieses postmoderne Radiofeature, in Vatanescus Bewusstsein ein.
Vierzig Prozent?
Der Fahrer öffnete die Beifahrertür und befahl Vatanescu, einzusteigen. Sie mussten vier schlechtgesprochene Sprachen miteinander kombinieren, erst dann gelangten sie zu einer Art Kommunikation. Öunap wollte wissen, warum der andere nicht zur vereinbarten Zeit am Flughafen Kittilä gewesen sei. Ihm seien deswegen drei Stunden Arbeitszeit flöten gegangen, unbezahlt. War Dummheit der Grund oder nur Langsamkeit? Warum mussten aus Polen immer solche Trottel kommen?
Ich bin nicht aus Polen.
Ich bin Vatanescu.
Ich habe Beeren.
Du kriegst fünfundvierzig Prozent.
Öunap sagte, mit dem Beerengefasel sei jetzt auf der Stelle Schluss.
Du kriegst die Hälfte.
Du kriegst fünfundsiebzig Prozent. Mein Sohn braucht Stollenschuhe.
Öunap befahl ihm, die Beeren endlich zu vergessen und zuzuhören. Das Einzige, worauf es jetzt ankomme, sei, das Fundament für den D-Flügel des Parkhauses zu gießen. Die Arbeit stehe nämlich still, weil Öunap mit seinem Laster die Zementpumpe transportierte. Im Fußraum fände der Pole Helm, Signalweste, Schuhe mit Stahlkappe und Werkzeuggürtel.
Ich bin kein Betonierer. Ich bin ein Jedermann.
Ich bin Beerenpflücker. Ehrlich.
Scheiß auf die Beeren. Du bist jetzt Betonierer. Zement-Trottel.
Stiefel mit Sicherheitskappen, Helm auf dem Kopf, Zementschlauch in der Hand, drei Mann in einer Gruppe. Neben Vatanescu und Öunap
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