Bettler und Hase. Roman
Schafe.
Das ist das Los des Kriminellen, vom ersten bis zum letzten Tag. Die wenigsten wollen schon im Kreißsaal Krimineller werden, erst später tun sich die entsprechenden Stellenangebote durch kleine oder auch riesengroße Zufälle auf. In Jegor Kugars Fall hatte das Fließband der Weltgeschichte plötzlich eine abrupte Kehrtwende gemacht und ihn von der Eismeerküste in die Vaasankatu in Helsinki befördert.
Niemand wäre kriminell, wenn man unter ebenso guten Bedingungen ein legales Leben samt Rentenpaket bekäme. Und selbst wenn man eines Tages genug Geld hätte, um aufhören zu können – welches wären dann die Stationen in Schicksal und Leben, an denen man vom Zug der Gaunerei abspringen sollte? Von einem Zug, der mit Volldampf oder Vollstrom durch Tunnels und gegen die Wand fährt. Es ist ein Hochgeschwindigkeitszug, ein Zug wie ein Geschoss. In zwei Wochen verdient ein Gauner so viel wie eine Verkäuferin am Drive-in-Schalter in drei Jahren. Der Gauner muss nicht vor dem System buckeln, er muss keine Formulare ausfüllen und in der Bank nicht um ein Wohnungsdarlehen betteln. Zwar gibt es auch in der Welt der Kriminalität ein System und Hierarchien, aber das merkt der Kriminelle in seiner anfänglichen Erregung nicht. In den anderen Gaunern findet er seine Familie, nie gehen ihm die Rauschmittel aus, die Aufgaben bleiben interessant. Die Gesetze macht man selbst, Frauen kriegt man oder nimmt man sich.
»Die Gefahr, sprich die Hitze fasziniert die Weiber, das braucht man gar nicht näher zu erklären, und daran ändert sich auch nichts. Ich hab sogar eine ganze Reihe Frauenforscherinnen gefickt, bloß weil meine animalische, brutale Art und meine Unberechenbarkeit ihrer Meinung nach gute Forschungsobjekte sind. Genau wie mein überdurchschnittlich langer Penis.«
Jetzt aber hatte man dem Wolf die Reißzähne und den Männlichkeitsfortsatz gezogen sowie das Bargeldbündel weggenommen, und die Schafe verwandelten sich in Wölfe. Jegor Kugar kannte das Verhalten zwar, hatte aber nie daran gedacht, selbst einmal in der Rolle des Schafs zu landen. Doch das waren nun mal die Fakten, denn wenn es so aussieht, ist es auch so, hätte ein gewisser Elder Statesman gesagt, und Jegor wusste das.
»Unsereiner war drauf und dran, in einem Zwei-Zeilen-Nachruf im Lokalblatt zu landen, in der Rubrik ›Aus dem Polizeibericht‹: Russe in Fußgängerunterführung ermordet. Er hinterlässt seine Gläubiger, und Natascha will ihren Laptop wiederhaben .«
Vor der eigenen Haustür verstärkte sich der Verdacht. Dort sah Jegor Kugar nämlich drei große Männer in Lederjacken stehen. Einer von ihnen hielt einen Winkelschleifer in der Hand, die anderen beiden trugen Vorschlaghämmer. Sie waren gekommen, um Nataschas Computer abzuholen, was für Jegor bedeutete, schnell in den Lagerraum von Naseem Hasapatilatis Kiosk zu fliehen. Naseem erklärte, er werde seinen einzigen Freund zwar beschützen, jedoch nicht unter Einsatz seines Lebens. Jegor Kugar war mit den Bedingungen einverstanden.
Nach dem vereinbarten Sicherheitsklopfzeichen brachte Naseem Hasapatilati Essen und Zeitungen in Jegors Unterschlupf, ansonsten blieb das Vorhängeschloss zum Lager zu. Jegor hatte ein Regal vor die Tür geschoben, denn er kannte die Vertragsbedingungen der Organisation, er hatte sie selbst mit Blut unterschrieben. Man schied nicht im Guten aus der Organisation aus, und auch im Schlechten gab es nur zwei Alternativen: die wirklich üble und die verdammt üble. Bei der ersten musste man der Organisation seinen weltlichen Besitz, einen kleinen Finger oder einen Arm überlassen. Bei der zweiten Alternative überließ man ihr sein ganzes Leben, und als Grund genügte, dass man in der obersten Etage der Organisation für überflüssig gehalten wurde. Hatte die Organisation für Männer wie Jegor keine Verwendung mehr, wurden Männer wie Jegor zu einer Gefahr für die Organisation. Sie wussten zu viel, sie konnten singen. Darum bestand die günstigste Alternative für die Organisation darin, die Karriere des Sängers zu beenden, bevor sie angefangen hatte.
So gingen Jegor Kugars Tage also auf der Matratze vor dem offenen Laptop dahin. Er suchte nicht nach Pornos und auch nicht nach den Eishockeyergebnissen, sondern nach einem ehemaligen Mitarbeiter und jetzigen Erzfeind, einem rumänischen Bettler. Und tatsächlich machte er Vatanescu auf bewegten Bildern ausfindig, und zwar als kostenloses wie als kostenpflichtiges Material. Die Schlagzeilen in
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