Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
Außerdem haben die Haferflocken nicht geschmeckt. Und außerdem“, fügte er hinzu, „haben wir Kolibris einen sehr hohen Stoffwechsel.“
„Warum?“ , fragte Viktor.
Cristobal nahm sein Biologieheft aus dem Rucksack und schlug es auf der ersten Seite auf: „Kolibris fliegen mit 80 Flügelschlägen pro Sekunde, ihr Herz schlägt 500 Mal pro Minute und ihre Atemfrequenz liegt bei 250 Zügen in der Minute.“
Viktor verstand nicht , was die Zahlen bedeuteten, aber er nickte. Cristobal ließ sein Heft fallen und warf sich winselnd auf das Bett, also lief Viktor in die Küche, lief dann wieder ins Zimmer und fragte: „Was willst du haben?“
„Honig“, flüsterte Cristobal gequält. „Oder Snickers“, rief er dann aufgeregt.
Snickers gab es nicht, also zog Viktor schnell ein Honigglas aus dem Regal und lief wieder ins Zimmer. Viktor hatte Pech, dass dieser Honig ein sehr teuer importierter spanischer Orangenblütenhonig war und Cristobal auch noch sehr gut schmeckte. Als Helena am nächsten Morgen das leere Glas in Viktors Zimmer fand, hielt sie ihm einen langen Monolog und sagte Sätze wie: „Für so ein Glas Honig muss ich zwei Kleider nähen und verkaufen, hast du eine Ahnung, wie viel Arbeit das ist?“ und „Da stehen vier Sorten von Honig in der Küche, wieso musste es gerade der hier sein?“ und „Hast du echt das ganze Glas aufgegessen? Ja! Mach weiter so, dann faulen dir deine ganzen Zähne und fallen raus!“
Als Viktor sagte, dass ein Kolibri den Honig gegessen hat, schlug sich Helena an die Stirn, rollte mit den Augen und sagte: „Hör auf , immer zu widersprechen!“
Viktor entschied, dass er Cristobal nicht mehr erwähnen würde und dass er auf Cristobals Ernährungsgewohnheiten in Zukunft achten muss te.
Seine Mutter stand da in ihrem offenen Morgenrock mit dem knielangen Nachthemd, ihre Haare waren vom Schlaf noch ganz zerzaust; Sie war gerade kein sehr schöner Anblick, ihre ungeschminkten Lippen und die Tränensäcke unter ihren Augen verliehen ihr ein furienartiges Aussehen, sie war nicht gerade Cristobals Catherine Zeta-Jones, aber Viktor bemerkte zum ersten Mal, dass seine Mutter schön war. Und je mehr sie schrie, desto schöner wurde sie.
Also sagte er „Scheiß auf den Honig!“, nur um sie noch mehr aufzuregen . Dann sagte er: „Das blöde Glas soll sich doch selbst ficken!“ – ein Ausdruck, den er bei Gerald van den Berg gelernt hatte. Er bekam damals mit, dass es ein böser Ausdruck war, worüber sich Erwachsene aufregten.
Helena beruhigte sich schlagartig. Sie stand wie versteinert da und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Dann kam sie mit zwei riesigen Schritten auf ihn zu, kniete sich vor Viktor hin, kam ihm ganz nahe, bis ihre Nasenspitze die seine berührte und er schielen musste, um sie anzusehen. Sie nahm sein Ohr zwischen Daumen und Zeigefinger, kniff ganz fest zu, zog ihn an seinem Ohr noch näher an sich heran, bis ihre beiden Nasen ganz schief zerdrückt wurden, und flüsterte: „Wenn ich noch einmal so etwas von dir höre, dann werde ich dich unter meine große Nähmaschine legen und werde dir die Lippen mit dickem, schwarzem Faden zunähen. Hast du mich verstanden?“ Sie ließ seinen Kopf nicken, indem sie sein Ohr hoch- und runterzog.
„Was mache ich, wenn du noch einmal so etwas sagst?“ , fragte sie flüsternd.
„Du wirst meine Lippen mit der Nähmaschine nähen“, flüsterte Viktor zurück.
Dann ließ sie ihn los und sagte mit der normalsten Stimme der Welt: „Zieh dich an, Schatz. Du kommst zu spät zur Schule.“
Viktor ging mit hochrotem Ohr zur Schule und entschied, vorerst ein paar Wörter endgültig aus seinem Vokabular zu streichen, bis er mal groß war und alleine Bus fahren durfte.
Megaspore
Am Ende der übernächsten Woche wachte Viktor morgens schon sehr früh auf, putzte sich schnell die Zähne, machte sein Bett und war tete auf seine Mutter mit glattgekämmten Haaren und in seinem Bruce-Wayne-Anzug.
Als sie herein kam, um ihn zu wecken, erwartete er sie mit einem glücklichen Grinsen, während er brav mit zusammengefalteten Händen auf seinem gemachten Bett saß.
Helena lachte laut auf und umarmte ihn. „Ja, mein Schatz, heute ist dein Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!“
Es war Samstag, und Viktor konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als acht Jahre alt zu werden an einem Samstag.
„Komm erstmal frühstücken, Viktor“, sagte sie, während sie ihm seine Krawatte band. „Und mach den Anzug
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