Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
dem ferngesteuerten Auto herumgefahren hatte und beide im Kinderlexikon „Kolibri“ nachgeschlagen hatten, verkündete Cristobal, dass er schnell wieder wegmüsse.
„Ich muss heute dringend ein paar Leute besuchen“, sagte er.
„Wen denn?“, fragte Viktor.
„Erstmal Maradona. Ich muss heute endlich mal wieder baden! Und dann muss ich noch jemand besuchen, Desmond Tutu heißt er.“
„Wer ist das?“, fragte Viktor.
Cristobal zuckte mit den Schultern, er hatte keine Ahnung.
„Ist er berühmt?“, fragte Viktor.
„Ich glaube schon“, antwortete Cristobal. „Er hat mal irgendeinen Preis gewonnen.“
Sie schauten in dem Kinderlexikon nach, fanden aber keinen Desmond Tutu.
„Ist er Boxer?“, fragte Viktor.
„Weiß ich nicht. Ich hoffe nicht!“
„Dann ist er vielleicht Rennfahrer.“
„Cooool!“, rief Cristobal.
Als Cristobal weg war, räumte Viktor sein Zimmer auf, putzte sich die Zähne und wollte sich gerade hinlegen, da hörte er ein seltsames, knarzendes Geräusch, das von unter seinem Bett kam.
Viktor ging kurz alle möglichen Optionen durch und wollte gerade nach seiner Mutter schreien, aber dann er innerte er sich, dass er schon acht war und einiges über Angrifftechnik von Cristobal gelernt hatte, also entschied er sich, sich der Existenz von Monstern unter dem Bett zu stellen.
Er legte sich flach auf das Bett, ließ seinen Kopf herunterhängen und erschreckte sich so sehr, dass er kopfüber aus dem Bett fiel.
Es waren keine Monster, sondern eine Eidechse, die in Viktors altem Turnschuh saß.
Die Eidechse saß im Turnschuh, als ob sie in einem großen bequemen Sessel sitzen würde, mit einem Arm auf dem oberen Rand des Schuhs, als ob der eine Armlehne wäre, schaute aus halbgeöffneten Augen gelangweilt zu Viktor hoch und sagte dann leise: „Guten Abend, Herr Abies.“
Weder hatte jemals jemand V iktor mit „Guten Abend“ begrüßt noch wurde Viktor jemals mit „Herr Abies“ angesprochen. Er wusste natürlich, dass das sein Nachname war, aber bisher war er in seinem ganzen Leben nur entweder „Viktor“ oder „Viktor Abies“ oder „Sohn von Helena Abies“ oder „Sohn von Herrn Abies“, aber nie selber „Herr Abies“.
Er verstand es a nfangs nicht und wusste nicht, ob er direkt selbst gemeint war und erwartete fast, dass sein Vater plötzlich auftauchen würde. Erst als die Eidechse ihn ungeduldig ansah und sehr artikuliert wiederholte: „Guten Abend, Herr Abies“, verstand Viktor, dass es sich um ihn handelte, und antwortete höflich: „Guten Abend.“
Die Welt hatte sich selbstverständlich verändert, seitdem er acht Jahre alt geworden war, also konnte es sein, dass er von nun an auch in Erwachsenensprache angesprochen wurde.
Die Eidechse seufzte ent nervt und kletterte langsam aus dem Schuh und unter dem Bett hervor.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte sie beiläufig.
„Gut“, antwortete Viktor und fügte dann ein pflichtbewusstes „Und Ihnen?“ hinzu.
Die Eidechse würdigte ihn eines kurzen, nichtssagenden Blickes, ging langsam im Zimmer umher und schaute sich alles an. „Ich wollte mir heute Abend nur einen kurzen Eindruck von all dem hier machen.“
Viktor verstand nicht ganz , was gemeint war, sagte aber: „Herzlich willkommen.“ Das sagten Helena und Oded immer, wenn neue Leute den Laden betraten.
„ Sie sind ja ein ganz Schlauer“, sagte die Eidechse missbilligend und spazierte durchs Zimmer. Sie war schön, metallisch grün, mit einem breiten, orangefarbenen Streifen auf dem Rücken. Sie ging am Piratenschiff vorbei und umkreiste das Modellflugzeug.
„Seit wann kommt dieser Vogel zu Ihnen?“, fragte sie.
„Wer? Cristobal?“
„Wie auch immer. Der Kolibri von eben.“
Viktor dachte nach, wusste nicht, was er antworten sollte, und sagte dann: „Er kommt mich oft besuchen.“
„ Das ist mir klar. Aber seit wann ?“
Viktor dachte nach und sagte dann zögerlich: „Drei Wochen?“
„Ach. Was Sie nicht sagen.“ Die Eidechse setzte sich auf das Kinderlexikon. „Stehen Sie mal auf, ich will Sie ansehen.“
Viktor stand auf und die Eidechse begutachtete ihn von oben bis unten.
„Herr Abies, was hat dieser Vogel mit Ihnen besprochen?“
Viktor wusste nicht , was er sagen sollte, also antwortete er: „Wir spielen immer.“
Die Eidechse seufzte und schaute gelangweilt auf ihre Fingernägel.
Viktor schwieg. Die Eidechse war so erwachsen und respekteinflößend. Viktor überlegte, dass es ein guter Moment war, die von
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