Beuterausch
ich lebendig war, hatte ich eine Chance, zu entkommen.
Doch ich brauchte Gewissheit, oder zumindest irgendeine Reaktion. Etwas, das ich deuten konnte.
Von Peg bekam ich keine Antworten. Deshalb beschloss ich, mich an den Klassenprimus zu wenden. Ich würde die Frau fragen.
Ihre Aufmerksamkeit zu erregen, war überhaupt kein Problem. Ich hatte sie schon. Der Frau entging nichts von dem, das sich in der Höhle abspielte. Sie war wie ein ständig wachsames Tier, ihre Blicke waren überall, ihre Sinne scharf, sogar wenn sie schlief, glaube ich.
Außerdem hatte ich Peg und Darleen mit ihr sprechen gehört und wusste mittlerweile, wie ich sie rufen konnte.
»Be-an«, sagte ich. Frau.
Ich nickte ihr zu und setzte einen fragenden Gesichtsausdruck auf. Kannst du bitte herkommen?
Sie saß auf einem Stein dicht am Feuerkreis und schnitzte eine scharfe Spitze an einen zwanzig Zentimeter langen Knochen. Überall in der Höhle gab es Knochen, die nach Länge und Stärke geordnet gestapelt waren. Man hätte denken können, sie lebten dort seit Monaten und nicht, wie Peg mir erzählte, erst seit ein paar Wochen. Manche stammten von Menschen, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Die meisten jedoch nicht.
Doch es waren nicht nur die Knochen meiner Freunde dort.
Sie stand auf und legte das Messer neben sich auf den Boden und kam langsam zu mir herüber. Neugierig. Dicht neben mir ging sie in die Hocke und drehte das Knochenstück zwischen Daumen und Zeigefinger.
Seit ich begonnen hatte zu essen, fesselten sie mir die Hände vor dem Körper statt hinter dem Rücken, und sie banden sie nur dann über mir an das Blatt einer Spitzhacke, die sie in den Fels getrieben hatten, wenn sie die Höhle verließen oder schlafen gingen. Aber nun hatte ich die Hände im Schoß liegen. Ich zeigte auf meine Brust und sagte: Ich.
Sie nickte. »Ich. Ja.«
Zum ersten Mal hörte ich sie meine Sprache sprechen.
Ich stieß mir ein unsichtbares Messer in den Bauch und riss es nach oben. Eine Scheinausweidung.
»Mich töten? Ja?«
Sie lächelte. Peg hatte ein hübsches Lächeln. Die Frau nicht.
»Nein«, sagte sie.
Die Erleichterung war riesig. Ich glaubte ihr. Ich hätte ihr auch geglaubt, wenn Peg mir nicht gesagt hätte, sie könne gar nicht lügen. Aber ich verstand immer noch nicht.
»Was dann?«, fragte ich.
Die Frau stand auf und zuckte die Achseln. Sah mich einen Moment von Kopf bis Fuß an. Meine schmutzigen Kleider. Meine schwarz gefleckten, ungewaschenen Hände.
Und dann widmete sie sich wieder ihrer Schnitzerei.
»Was liest du da?«
Es war spät, das Feuer war zu einer schwach flackernden Glut heruntergebrannt, und Peg und ich waren als Einzige noch wach.
Bei dem Buch handelte es sich um ein schmutziges altes Taschenbuch ohne Umschlag.
»Siddhartha«, sagte sie. »Hermann Hesse. Hast du es gelesen?«
»Ja. Damals am College.«
»Mir gefällt es. ›Ich kann denken. Ich kann warten. Ich kann fasten.‹ Das gefällt mir. Das gefällt mir sehr.«
Am Morgen des siebten Tages wurde ich von erhobenen Stimmen geweckt. Sie stritten. Peg und die Frau. Umkreisten sich um die kalte Asche des Feuers wie zwei Ringer auf der Suche nach einem Griff, zeigten auf sich, gestikulierten wild und schüttelten die Köpfe. Während die Hunde und Augenhöhle in einer Ecke kauerten und Darleen mit ruhigem Interesse zusah.
Zuerst hatte ich keine Ahnung, worum zum Teufel es dabei ging. Außer einem gelegentlichen nein, nein, nein! von Peg spielte sich alles in der Sprache der Frau ab. Doch Peg benahm sich äußerst seltsam, so viel konnte ich sagen, sehr untypisch.
Sie war … zickig . Sie schmollte. Sie stampfte sogar einmal mit dem Fuß auf und führte sich auf wie die Jugendliche, die sie meiner Meinung nach war. So etwas hatte ich nicht erwartet. Im Gegenteil, ihr Benehmen mir gegenüber war immer sehr erwachsen gewesen.
Aber das hier war ein Kind, das einen Wutanfall hatte.
Ihre Stimme war eine Oktave höher.
Ich brauchte ein paar Minuten, um zu begreifen, dass es auch um mich ging. Trotz der Blicke in meine Richtung. Dass der Streit sich irgendwie um mich drehte. Was mich völlig verwirrte. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum. Was hatte ich mit irgendetwas zu tun? Ich war nur ein Gefangener.
Doch als die Frau auf mich zeigte und tu dheanamh! brüllte, gab es keinen Zweifel mehr. Ich war darin verwickelt.
Und Peg wirkte völlig niedergeschmettert. Als hätte die Frau sie geschlagen. Ihre Gesichtszüge lösten sich auf. Einen
Weitere Kostenlose Bücher