Beutewelt 06 - Friedensdämmerung
hatte er seinem inzwischen auf Distanz gegangenen Freund Thorsten Wilden erzählt. Dieser jedoch konnte nicht nachvollziehen, warum Tschistokjow einerseits im Volk seine revolutionären Ideen verbreitete und andererseits der Weltregierung Zugeständnisse machte und sich sogar bei ihr verschuldete.
„Wenn Artur zu seinem Volk redet, dann könnte man fast glauben, dass er immer noch der Alte ist, aber sein Verhalten spricht eindeutig dagegen“, hatte der Außenminister Frank vor ein paar Tagen erklärt. Dieser gab ihm Recht und konnte sich auf das oft widersprüchliche Verhalten des russischen Staatsoberhauptes ebenfalls keinen Reim machen.
Sämtlichen Bürgern des Nationenbundes der Rus wurden Artur Tschistokjows politische Leitsätze inzwischen bei jeder Gelegenheit eingepaukt. Diese sprachen allerdings eine Sprache, die mit dem Verhalten des Präsidenten nichts mehr gemeinsam hatte.
Selbst Ludwig Orthmann, der Frank, Alfred und Wilden inzwischen ein guter Freund geworden war, sich regelmäßig mit ihnen austauschte oder sie in Minsk besuchte, hegte langsam Zweifel an der Aufrichtigkeit des Revolutionsführers.
Nach und nach lernten Kohlhaas und die anderen nun auch weitere deutsche Flüchtlinge, die als Mitglieder der Freiheitsbewegung im September 2047 die DSDR, die Deutsche Sektion der Rus, gegründet hatten und kräftig bei ihren Landsleuten für die Organisation warben. Jetzt versuchten sie möglichst viele von ihnen darin zu erfassen.
Eigentlich war die Gründung dieser Untersektion der Freiheitsbewegung Wildens Idee gewesen, doch Ludwig Orthmann hatte sich sofort begeistert gezeigt, sie in die Tat umgesetzt und eine führende Position eingenommen. Den Vorsitz der DSDR hatte allerdings ein ehemaliger Lehrer aus Trier übernommen, der bereits vor drei Jahren nach Russland geflüchtet war. Sein Name war Julius Kaltmeyer.
Mittlerweile tingelte Ludwig Orthmann durch die Dörfer und Städte Russlands und versuchte seine überall im Land verstreuten deutschen Landsleute für die DSDR zu gewinnen. Frank und Alfred, die an einem Erstarken dieser Untersektion der Freiheitsbewegung selbst ein großes Interesse hatten, begleiteten ihn mit Genehmigung Artur Tschistokjows auf einigen seiner Reisen und waren immer wieder erfreut, wenn sie mit anderen deutschen Auswanderern ins Gespräch kamen.
So träumten die aus dem Verwaltungssektor Europa-Mitte geflohenen Deutschen von einer Heimat, die eines Tages wieder frei sein würde, und von der Rettung ihres gefangenen, untergehenden Volkes. Alle setzten sie ihre Hoffnungen in Artur Tschistokjow, doch dieser schien das Interesse am übrigen Europa längst verloren zu haben.
Nach und nach zogen schließlich auch die Auswanderer aus den anderen Ländern Europas nach, gründeten ihrerseits Untersektionen innerhalb der Freiheitsbewegung für die Angehörigen ihrer jeweiligen Volksgruppe.
Sogar eine Amerikanische Sektion der Rus wurde von einigen Amerikanern europäischer Herkunft gegründet, denn auch aus dem Sektor Amerika-Nord waren inzwischen schon mehrere Tausend Menschen nach Russland geflohen. Und selbst die Nachfahren der meist englischen und deutschen Auswanderer aus Australien, Neuseeland oder Südafrika kamen allmählich in immer größerer Zahl bei Nacht und Nebel in Tschistokjows Reich.
Das russische Staatsoberhaupt, das die Gründung der DSDR sehr begrüßt hatte, da er seit jeher ein deutsch-russisches Bündnis propagiert hatte, betrachtete einige der anderen Untergruppen jedoch mit einer gewissen Skepsis.
„Wie würden sich die englischen Mitglieder der Freiheitsbewegung verhalten, wenn wir zum Beispiel die britischen Inseln im Zuge eines Krieges bombardieren müssten?“, hatte Tschistokjow Frank einmal gefragt, doch dieser war lediglich sarkastisch geworden, hatte erwidert, dass seine gegenwärtige, liberale Politik so etwas doch recht unwahrscheinlich erscheinen ließe. Der Anführer der Rus hatte diese Aussage gründlich in den falschen Hals bekommen und Frank war anschließend mehrere Wochen lang von ihm ignoriert worden.
Etwa 400 deutsche Flüchtlinge hatten sich heute unter der Leitung von Ludwig Orthmann und Julius Kaltmeyer in Kursk eingefunden, um die erste größere Versammlung der DSDR durchzuführen. Als Ehrengäste waren auch die Vorsitzenden einiger anderer Untersektionen, etwa der französischen, holländischen und ungarischen, erschienen, um dem Treffen beizuwohnen.
Frank und Alfred waren ebenfalls mitgekommen, obwohl sie bereits nach
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