Beutewelt 06 - Friedensdämmerung
verfasste Buch „Der Weg der Rus“ unter die Nase und las ihm daraus vor: „Wenn Europa noch einmal vor dem Untergang gerettet werden soll, dann müssen zunächst die beiden bevölkerungsreichsten Länder, Russland und Deutschland, durch eine revolutionäre Bewegung befreit werden. Letzteres ist dazu kaum noch in der Lage, denn das Volk der Dichter und Denker hat in den letzten Jahrzehnten schon so viel von seiner ethnischen und kulturellen Substanz verloren, dass es sich wohl von alleine nicht mehr aufrichten wird.
Daher muss Russland die Aufgabe zukommen, die europäische Freiheit nicht nur zuerst zu erkämpfen, sondern sie auch später nach Westeuropa hineinzutragen. Würde es je gelingen, sowohl Russland als auch Deutschland aus den Klauen der Logenbrüder zu reißen, wieder zu eigenständigen, starken Nationen zu machen und zu einem festen Bündnis zusammen zu schmieden, so hätte das eine enorme weltpolitische Bedeutung.
Diese neue Macht könnte es einst schaffen, der Weltregierung politisch und militärisch das Rückgrat zu brechen. Ein Bündnis zweier so erfindungsreicher Nationen wäre durch seine Kraft schließlich auch in der Lage, dem übrigen Europa die Freiheit zu erkämpfen. Russland allein würde jedoch auf Dauer den harten Kampf gegen die Menschheitsvergifter nicht bestehen können. Vor allem wenn es vergisst, welche Verantwortung es in diesem Zeitalter gegenüber dem übrigen Europa hat…“
Nachdem Wilden diese Zeilen gelesen hatte, ließ ihn Tschistokjow einfach stehen und ging wortlos davon, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Und so verstrich der Rest des Jahres 2047 im Frieden, während der nächste eisige Winter Russland unter seinen gewaltigen Schneemassen begrub.
Frank liebkoste Julias warmen, weißen Bauch, um sie dann zärtlich auf den Mund zu küssen. Soeben hatten sie sich geliebt und er fühlte ihr Herz noch immer wild neben seinem Ohr pochen. Frank legte sich auf den Rücken, während Julia ihren Kopf an seine Brust schmiegte. Die blonden Haare der schönen Frau fühlten sich weich und geschmeidig an, Kohlhaas liebte es sie zu berühren.
Wie Flachs sahen sie aus und sie leuchteten im schwachen Mondlicht, welches durch das Fenster eindrang. Es war tief in der Nacht und der kleine Friedrich schlief ruhig in seinem Bett. So sollte es immer sein, dachte sich Frank, seiner Geliebten ein mildes Lächeln schenkend.
Die letzten Tage waren unbeschwert gewesen. Das Pärchen hatte sich kaum noch mit Artur Tschistokjow, der Freiheitsbewegung oder irgendwelcher Politik beschäftigt. Es schien fast so, als hätten sie es aufgegeben, sich noch weitere Gedanken über das Für und Wider von Arturs neuem Weg zu machen.
Vielleicht war es auch besser so, hatte Julia zu ihm gesagt, und Frank war des ewigen Kämpfens und Aufregens längst müde geworden. Er hatte sich genug eingesetzt, genug Opfer gebracht. Jetzt waren endlich die anderen an der Reihe und konnten ihre Leben riskieren, wenn sie es denn wollten. In den letzten Tagen war Kohlhaas oft kurz davor gewesen, die Führung der Warägergarde ganz abzugeben und diesem ganzen Zeug den Rücken zu kehren. Wenn dieser vielleicht faule Frieden wenigstens noch bis zum Ende seines Lebens andauern würde, dann wäre es zumindest besser als noch mehr Krieg, dachte er sich gelegentlich.
Doch tief im Inneren befürchtete er, dass diese Rechnung ohnehin nicht aufgehen würde. Und was sollte aus Friedrich werden? Würde er ganz von vorne beginnen müssen, wenn der Nationenbund der Rus eines Tages doch wieder zusammenbrach? War der Traum von Freiheit nicht von Anfang an nur eine Illusion gewesen?
Der übermächtig erscheinende Feind würde am Ende ja doch siegen, so wie er es in dieser Epoche immer getan hatte. Hatte er umsonst alle die Schrecken erlitten?
Heute war er bemüht, sich nicht allzu sehr in derartige Gedankengänge zu vertiefen. Es hatte sowieso keinen Zweck, kostete nur wertvolle Lebenszeit, die man auch sinnvoller nutzen konnte.
„Was ist los mit dir, Schatz? Denkst du wieder nach?“, fragte Julia plötzlich.
„Nein, ich entspanne mich nur“, gab Frank zurück, doch das war nicht ganz die Wahrheit.
„Willst du die Führung über die Waräger denn jetzt wirklich abgeben?“, fing sie wieder an.
„Ich weiß es noch nicht, aber vielleicht verschaffe ich mir diesmal endgültig Ruhe“, sagte Kohlhaas und drückte seine Freundin fest an sich.
„Sie werden dich nicht mehr brauchen. Sie haben doch längst jüngere Offiziere.
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