Bevor der Abend kommt
dachte erneut an Neil. Drei Jahre lang hatte sie wie eine Nonne gelebt und jetzt plötzlich wie die Dorfschlampe? Ich fühle mich gar nicht so toll, dachte sie und spürte Toms Zunge auf ihren Brustwarzen, während sich seine Finger mit dem Knopf ihrer Jeans abmühten.
(Rückblende: Cindy liegt fröstelnd und krank im Bett, trinkt Kräutertee und kämpft gegen den Drang an, sich zu übergeben, als sie hört, wie die Haustür geöffnet wird und eine Frau lacht. Sie kriecht aus dem Bett und stolpert zum Absatz der Treppe.
»Etwas zu trinken?«, hört sie Tom aus der Küche fragen.
»Hallo? Tom?«, ruft sie und beobachtet, wie Tom am Fuß der Treppe auftaucht, offensichtlich überrascht, sie zu sehen.
»Was machst du denn zu Hause? Ist heute nicht der Tag, an dem du Elterndienst an Heathers Schule hast?«
»Ich hab mich nicht besonders gut gefühlt. Ich musste absagen. Was ist denn los?«
»Ich habe meinen Aktenkoffer vergessen«, erklärte Tom unbekümmert. »Schau mal, wen ich zufällig auf der Straße getroffen
habe«, fügt er noch hinzu, beinahe so, als wäre es ihm gerade erst wieder eingefallen.
Der Kopf einer Frau taucht in Cindys Blickfeld auf, und sie erkennt die Mutter einer Freundin von Heather.)
Was um alles in Welt mache ich hier, fragte sich Cindy jetzt und schüttelte den Kopf, um wieder klar zu denken, wovon ihr jedoch nur schwindelig und übel wurde.
»Wir hatten auch ein paar ziemlich gute Zeiten«, sagte Tom, der ihr Unwohlsein offensichtlich nicht bemerkt hatte.
Wie immer, dachte Cindy. »Wenn du mich nicht gerade betrogen hast«, sagte sie ausdruckslos.
Er lachte nervös. »Du hast das alles zu ernst genommen. Du weißt doch, dass es mir nichts bedeutet hat.«
Sollte sie sich deswegen besser fühlen? »Aber es hat mir etwas bedeutet.«
Schweigen. Seine Hand erstarrte auf ihrer Haut. »Du versaust die Stimmung, Baby.«
»Du würdest tatsächlich mit mir in dieser Wohnung schlafen? In diesem Bett?«
»Mein Gott«, sagte Tom, richtete sich auf und hob die Hände, als ob eine Waffe auf seinen Kopf gerichtet würde. »Du kannst dich nicht einfach mal entspannen und die Dinge geschehen lassen, oder? Verdammt noch mal, Cindy. Du hast dich kein bisschen verändert.«
»Selber verdammt. Du auch nicht, Tom.« Cindy stieß sich vom Bett ab, zog den Reißverschluss ihrer Jeans hoch und suchte auf dem weißen Teppich nach ihrem BH. Wahrscheinlich war es unklug, sich so hastig zu bewegen, dachte sie, sank auf die Knie und ertastete den BH. Sie stand bereits wieder, als sie die Stimme in der Tür hörte.
»Dad? Was machst du denn so früh zu Hause?«
Es war zu spät, um etwas anderes zu tun, als sich umzudrehen.
»Oh wow!« Heather riss ungläubig die Augen auf und blickte
von ihrem mit nackter Brust dastehenden Vater zu ihrer halb gebückten, halb nackten Mutter.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte Tom lahm und fummelte an seinen Hemdknöpfen.
»Es ist nichts passiert«, sagte Cindy, streifte den BH über und hakte den Verschluss zu. Erst überraschten sie ihre Mutter und ihre Schwester mit Neil, jetzt ertappte ihre Tochter sie mit Tom. Das kommt davon, wenn man drei Jahre keinen Sex hatte, dachte Cindy.
»Klar. Okay. Wow.«
»Es war ein kurzer Moment der Schwäche«, erklärte Cindy.
»Ich dachte, du hättest bis sechs Seminare.«
»Heißt das, dass ihr wieder zusammenkommt?«
»Auf gar keinen Fall«, sagte Tom mit Nachdruck.
»Gott bewahre«, hauchte Cindy wie ein Echo.
»Okay. Also gut, wow, okay«, sagte Heather und bewegte sich rückwärts aus dem Zimmer. »Ich sollte dann wohl besser gehen.«
»Schätzchen …«, rief Cindy ihr nach.
»Mir geht es gut. Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Ich ruf dich nachher an.« Und dann fiel die Haustür hinter ihr ins Schloss.
Tom sah Cindy an. »Ich hoffe, du bist stolz auf dich«, sagte er.
25
Am Mittwoch, dem 11. September, blieb Cindy im Bett, sah fern und durchlebte mit dem ganzen Land noch einmal das Grauen der Terroranschläge auf das World Trade Center ein Jahr zuvor.
Wie jeder, den sie kannte, konnte auch Cindy sich noch genau daran erinnern, wo sie gewesen war, als sie die erschütternde Nachricht erfahren hatte. Es war während des Filmfestivals passiert, sie und Meg kamen nach der Vorführung des britischen Films Last Orders mit Michael Caine und Bob Hoskins gerade aus dem Uptown. Gegen elf Uhr gingen sie die Yonge Street hinauf, um sich mit Trish zu treffen und vor dem nächsten Film ein Sandwich zu essen.
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