Bevor der Abend kommt
sechs.«
Cindy sah auf die Uhr. Es war erst kurz nach vier.
Tom setzte die Füße auf den Boden, beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf die Knie. »Sie will am Wochenende wieder nach Hause kommen.«
Cindy nickte dankbar. »Und Julia?«, fragte sie, den Namen laut aussprechend, der seit jenem schrecklichen Augenblick im
Leichenschauhaus, als der Angestellte den Leichensack geöffnet hatte, nicht mehr erwähnt worden war.
Sie ist es nicht , hörte sie Tom flüstern. Es ist nicht Julia .
»Wir warten«, sagte er jetzt. »Was können wir sonst machen?«
Cindy sprang so unvermittelt auf, dass ihr Drink überschwappte und auf ihre Hand kleckerte. »Ich fühle mich so schuldig«, sagte sie und wischte sich die Hand an der Jeans ab.
»Schuldig? Warum um alles in der Welt fühlst du dich schuldig?«
»Weil ich so erleichtert war, so dankbar, so glücklich, als ich das Gesicht des armen Mädchens gesehen und erkannt habe, dass es nicht Julia war.«
»Aber das ist doch ganz natürlich.«
»Ich glaube, es war Sally Hanson«, sagte Cindy.
»Wer?«
»Das Mädchen, das eine Woche nach Julia verschwunden ist. Ihre armen Eltern …«
»So haben sie zumindest Gewissheit.« Tom spülte den letzten Rest seines Drinks hinunter und stellte das Glas mit einer Festigkeit auf den Tisch, die seiner Stimme abging.
Cindy nickte. Wäre es besser, Gewissheit zu haben?, fragte sie sich.
»Wenigstens war kein Blut zu sehen«, sagte Tom und schien vor seinem inneren Auge die Bilder aus der Leichenhalle zu sehen, die ihn offensichtlich noch immer verfolgten.
»Beim Gehen habe ich gehört, wie der Beamte zu Detective Gill etwas über ein Paar gesagt hat, das heute Morgen bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist«, erinnerte Cindy sich. »Er hat gesagt, der Wagen wäre explodiert und die Insassen hätten schwerste Verbrennungen erlitten. Er hat sie ›Brathähnchen‹ genannt.« Cindy starrte ihren ehemaligen Mann ungläubig an. »Hat er das wirklich gesagt, oder habe ich mir das nur eingebildet?«
Tom schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gleiche gehört.«
»Nicht zu glauben, dass sie so reden.«
»Vermutlich muss man ein ziemlich dickes Fell entwickeln, wenn man in einer solchen Umgebung überleben will.«
»Trotzdem …« Cindy schüttelte sich. » Brathähnchen ?«
»Heute bleibt die Küche kalt …«, begann Tom.
Im selben Moment löste sich ein Lachen aus Cindys Kehle und purzelte aus ihrem Mund wie ein Kind, das von einem Schlitten geschleudert wurde. Toms Lachen folgte dem ihren Saltos schlagend, ihr Gelächter mischte sich und wurde ununterscheidbar. »Ich kann nicht glauben, dass wir lachen«, sagte Cindy und lachte noch lauter.
»Eine Portion Brathähnchen, bitte«, sagte Tom.
»Aber ohne Mayo«, schmückte Cindy weiter aus.
»Oh, das tut weh«, sagte Tom und hielt sich vor Lachen den Bauch.
»Was ist bloß los mit uns?«
»Wir könnten noch einen Drink gebrauchen«, stellte Tom fest, nahm Cindy das fast leere Glas aus der ausgestreckten Hand, sein eigenes vom Couchtisch und marschierte aus dem Zimmer.
Cindy folgte ihm, als hätte sie Angst, auch nur einen Moment alleine gelassen zu werden. Auf ihrem Weg in die Küche strich sie über das dunkle Eichenfurnier des langen Esstischs, blieb dann jedoch stehen, um das imposante Weinregal zu bestaunen, das zwischen Esszimmer und Küche in die Wand eingelassen war. Hinter einer dicken Glasscheibe stapelten sich die Flaschen, penibel beschriftet auf einem Metallboden liegend. Wie die Leichen in der Leichenhalle, dachte Cindy und spürte neues Gelächter in sich aufsteigen. »Das ist eine ziemlich beeindruckende Sammlung«, sagte sie, als sie die gekachelte Marmorküche betrat, wo Tom ihre Gläser auffüllte. »Wie viele Leichen hast du denn hier gelagert?«
»Was?«
» Flaschen «, verbesserte sie sich. »Ich wollte sagen Flaschen.«
Tom lächelte. »Platz ist für vierhundert.«
»Du wolltest schon immer einen Weinkeller haben.«
»Ich wollte schon immer einen Weinkeller haben«, bestätigte er.
Nun musste Cindy lächeln. »Und worauf trinken wir jetzt?«
»Wie wär’s damit, dass wir nie wieder ein Leichenschauhaus besuchen müssen?«, schlug Tom vor.
»Klingt gut.« Cindy trank einen großen Schluck. Diesmal überlagerte der Wodka das zarte Preiselbeeraroma. Sie spürte ein angenehmes Kribbeln im Nacken. Wahrscheinlich würde sich ihr Kopf jeden Moment von ihrem Körper lösen und durch die Luft schweben wie ein mit Gas gefüllter Luftballon.
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