Bevor der Abend kommt
Gesichtsausdruck.«
»Ja, sie ist durchaus schon die ganze Nacht weggeblieben«, beantwortete Cindy seine erste Frage, obwohl sie nicht genau
wusste, wie lange es her war, dass er sie gestellt hatte. »Aber sie ruft immer an. Sie hat sich noch nie überhaupt nicht gemeldet.« Außer jenes eine Mal, kurz nachdem sie nach Hause zurückgekehrt war, erinnerte Cindy sich, als sie klar machen wollte, dass sie erwachsen und ihrer Mutter keine Rechenschaft schuldig war. Ihr Vater , hatte sie spitz bemerkt, hätte ihre Freiheit nie in dieser Weise eingeschränkt. Ihre Mutter , hatte Cindy erwidert, müsse wissen, dass sie gesund und wohlbehalten sei. Das sei eine Frage der Rücksichtnahme, nicht der Einschränkung. Julia hatte die Augen verdreht und war aus dem Zimmer geschlendert, jedoch nie wieder über Nacht weggeblieben, ohne anzurufen.
Bis auf das eine Mal, als sie es vergessen hatte, erinnerte Cindy sich, aber da hatte sie gleich am nächsten Morgen angerufen und sich ausführlich entschuldigt.
»Musst du nicht arbeiten?«, fragte sie Neil, damit ihr nicht noch eine weitere Ausnahme einfiel.
»Im Sommer nehme ich mir freitags immer frei.«
Cindy erinnerte sich vage, dass er ihr das schon gestern Abend erzählt hatte. »Du musst nicht bleiben. Ich meine, es war sehr aufmerksam von dir, dass du vorbeigekommen bist und alles. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, aber du hast doch bestimmt Pläne für das lange Wochenende …«
»Ich habe nichts vor.«
»… und Julia müsste jetzt jeden Moment nach Hause kommen«, fuhr Cindy fort, ohne auf die Implikationen seiner Bemerkung einzugehen, »und dann werde ich sie erwürgen, und alles ist wieder normal.« Sie versuchte zu lachen, stieß jedoch stattdessen halb schluchzend heraus: »Oh Gott, was, wenn ihr etwas Furchtbares zugestoßen ist?«
»Ihr ist nichts Furchtbares zugestoßen.«
Cindy starrte Neil flehend an. »Versprichst du mir das?«
»Ich verspreche es«, sagte er schlicht.
Und zu ihrer eigenen Verblüffung fühlte Cindy sich besser. »Danke.«
Neil nahm ihre Hände.
Im selben Moment hörte man ein lautes Getrampel auf der Treppe, und kurz darauf stand Heather im Zimmer.
Cindy zog ihre Hände eilig zurück und legte sie sittsam in den Schoß.
»Wer sind Sie?«
»Heather. Das ist Neil Macfarlane.«
»Der Steuerberater.« Heather trat vorsichtig näher und registrierte mit einem wachen Blick seine schwarze Jeans und das dazu passende Jeanshemd.
»Das ist meine jüngere Tochter Heather.«
Neil stand auf und gab Heather die Hand. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Heather.«
Heather nickte. »Ich dachte, Julia wäre vielleicht gekommen.«
»Nein«, sagte Cindy.
Heather trat von einem Fuß auf den anderen. »Duncan und ich wollten kurz zur Queen Street fahren. Wenn du mich nicht für irgendwas brauchst.«
»Nein, danke, Schatz, alles bestens.«
»Wirklich? Ich kann gerne hier bleiben, wenn du willst.«
»Nein, Schätzchen, geh du nur. Ich komme schon zurecht.«
»Rufst du mich an, sobald Julia nach Hause kommt?«
Cindy nickte und warf einen nervösen Blick zur Haustür.
»Hast du meine Handynummer?«
»Selbstverständlich.« Cindy rief sich mehrere Nummern ins Gedächtnis, erkannte jedoch, dass es Julias waren. »Vielleicht schreibst du sie doch besser noch mal auf.«
Heather ging in die Küche. »Ich leg sie dir neben das Telefon«, rief sie, als Duncan die Treppe heruntergestürmt kam.
»Ist Julia zurück?«, fragte er.
»Noch nicht.«
Er sah Neil ausdruckslos an und verschränkte schützend die Arme. »Sind Sie ein Polizist?«
Cindy wurde blass. Warum fragte er das?
»Er ist Steuerberater«, sagte Heather, die in diesem Moment ins Zimmer zurückkam. »Wir sollten jetzt gehen.« Sie schob Duncan zur Haustür. »Denk dran, mich anzurufen, wenn Julia nach Hause kommt.«
Cindy sah ihnen nickend nach. »Meinst du, ich sollte die Polizei anrufen?«
»Wenn du dir Sorgen machst, ja.«
»Aber es ist doch erst vierundzwanzig Stunden her.«
»Das ist lange genug.«
Sie dachte an Tom und daran, dass sie wahrscheinlich warten sollte, bis er zurückrief, um die Sache mit ihm zu besprechen, bevor sie irgendetwas überstürzte. »Ich sollte vielleicht doch noch ein bisschen abwarten.«
»Hast du bei der Agentur angerufen, bei der Julia ihr Casting hatte, um nachzufragen, ob sie zu dem Termin erschienen ist?«
»Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll«, gab Cindy zu. »Ich meine, ich weiß, dass es ein Casting für Michael Kinsolving war,
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