Bevor der Abend kommt
aber er hat wahrscheinlich irgendwelche Räumlichkeiten gemietet, und ich habe weder eine Adresse noch eine Telefonnummer.« Ich weiß gar nichts, jammerte sie stumm. Was für eine Mutter bin ich, dass ich gar nichts weiß? »Tom wird es wissen«, sagte sie. »Mein Ex-Mann. Julias Vater. Er hat den Termin arrangiert. Er wird es wissen.« Noch ein Grund mehr zu warten, bis sie mit ihm gesprochen hatte, bevor sie die Polizei alarmierte, gestand sie sich ein.
Neil ging zum Kamin und nahm einen Plexiglasrahmen von dem Sims. »Ist das Julia?«
Cindy betrachtete das Bild von Julia, das ein paar Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag aufgenommen worden war. Lächelnd zeigte sie eine Reihe professionell gerichteter und gebleichter Zähne, die Schultern anmutig gestrafft in ihrer cremefarbenen Lederjacke von Gucci, ein Geschenk ihres Vaters. Diamantstecker funkelten in beiden Ohren, ein weiteres Geschenk von Daddy. An dem Abend, an dem das Foto gemacht
worden war, hatte Cindy ihrer Tochter eine zierliche Halskette mit den Buchstaben ihres Namens in Gold geschenkt. Nicht einmal einen Monat später hatte Julia sie zerrissen, als sie sich einen Rollkragenpulli über den Kopf gezerrt hat. Ich hab vergessen, dass ich sie anhatte , erklärte sie lässig und gab ihrer Mutter die Kette zurück. Cindy ließ sie pflichtschuldig reparieren, woraufhin Julia sie ein paar Wochen später ganz verlor. »Das ist ein altes Foto«, sagte Cindy, nahm Neil das Bild aus der Hand und stellte es wieder auf den Kaminsims, wobei sie mit einem Finger kurz über die Wange ihrer Tochter unter dem Glasrahmen strich.
»Sie ist ein sehr hübsches Mädchen.«
»Ja, das stimmt.«
»Wie ihre Mutter.«
Das Telefon klingelte, und Cindy stürzte in die Küche, stolperte über den Sisalteppich im Flur und stieß mit der Hüfte gegen die Küchentür. »Verdammt«, fluchte sie, während sie den Hörer abnahm. »Hallo.«
»Selber verdammt«, antwortete ihre Mutter. »Was ist los, mein Schatz? Hast du vergessen, dich zu schminken?«
Cindy strich mit der Hand über ihre Wange und merkte erst jetzt, dass sie es tatsächlich versäumt hatte, Make-up aufzulegen. Trotzdem hatte Neil gesagt, sie sei hübsch, dachte sie dankbar und schüttelte den Kopf, als er die Küche betrat, um ihm zu signalisieren, dass der Anrufer nicht Julia war. »Mir geht es gut, Mom. Ich bin gerade nur ziemlich beschäftigt. Kann ich dich zurückrufen?«
»Nicht nötig. Ich wollte nur mal hören, ob alles in Ordnung ist. Deine Schwester hat gesagt, dass du irgendwie schwer genervt klingen würdest, und ich fürchte, ich muss ihr Recht geben.«
Cindy schloss die Augen. »Alles bestens, Mom. Ich ruf dich später an. Okay?«
»Fein, mein Schatz. Pass auf dich auf.«
»Meine Mutter«, erklärte Cindy, nachdem sie aufgelegt und sofort die Mailbox überprüft hatte, um sich zu vergewissern, dass zwischendurch kein Anruf eingegangen war. »Meine Schwester hat ihr erzählt, ich hätte genervt geklungen, als sie mich heute Morgen angerufen hat.«
»Sie meinte bestimmt, nervös«, tröstete Neil sie.
Cindy lachte. »Danke, dass du gekommen bist. Ich bin dir wirklich sehr dankbar.«
»Ich wünschte bloß, ich könnte irgendwas tun.«
In Cindys Kopf machte es Klick. »Du könntest mich zu Sean Banack begleiten«, verkündete sie unvermittelt.
»Zu wem?«
»Das erkläre ich dir unterwegs.« Cindy schrieb eine Notiz für Julia und legte sie für den Fall auf den Küchentisch, dass ihre Tochter während ihrer Abwesenheit nach Hause kam. Auf dem Weg zur Tür rief sie erneut Julias Handynummer an und hinterließ eine weitere Nachricht. Irgendwie hatte Sean seltsam geklungen, als sie am Morgen mit ihm telefoniert hatte, dachte Cindy, als sie das Gespräch in ihrem Kopf noch einmal Wort für Wort abspulte. In seiner Stimme hatte noch etwas anderes mitgeschwungen als Zigaretten und Alkohol, etwas mehr als Müdigkeit, Ungeduld und verletzter Stolz.
Wut, wie sie jetzt erkannte.
Er hatte schwer genervt geklungen.
»Ist Sean da?«
»Ist er nicht«, sagte der junge Mann, der in der Tür stand und Cindy den Zutritt zu der kleinen Wohnung im ersten Stock über einem alten Gemischtwarenladen am südlichen Ende der Dupont Street versperrte. Der Mann war groß und schwarz mit athletischem Körper und einem glänzenden, kahl geschorenen Kopf. In seinem linken Ohr baumelte ein silberner Ohrring, und ein Kopfhörer hing wie eine Schlinge um seinen Hals. Er trug einen ärmelloses weißes T-Shirt und eine
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