Bevor der Abend kommt
Weise für diese Spannung verantwortlich? Unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie oft sie und Tom in ähnlicher Weise Masken aufgesetzt und für die Kinder freundlich gelächelt hatten, bevor sie sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen und sich zwischen zusammengebissenen Zähnen all die angestaute Wut an den Kopf geworfen hatten, mit einer Feindseligkeit, die durch ihre angestrengte Unterdrückung umso intensiver war. Cindy griff nach dem Telefon, wählte die Nummer von Toms Kanzlei und lächelte gezwungen, während sie darauf wartete, dass seine Sekretärin abnahm.
»Kanzlei Thomas Carver«, flötete die Sekretärin mit ihrer Kleinmädchen-Stimme, obwohl die Frau beinahe so alt war wie Cindy.
»Ich hätte gern Mr. Carver gesprochen, bitte.«
»Cindy?«, fragte die Sekretärin. »Sind Sie das?«
»Irena«, begrüßte Cindy sie, überrascht, dass ihre Stimme nach all der Zeit noch immer so leicht zu erkennen war. »Wie geht es Ihnen?«
»Großartig. Im Stress wie üblich. Ich habe seit Ewigkeiten nichts mehr von Ihnen gehört. Wie geht es Ihnen?«
»Mir geht es sehr gut, danke«, log Cindy. »Ist er da?«, fragte sie, weil sie sich unsicher war, wie sie ihren Ex-Mann bezeichnen sollte. Sie konnte ja schlecht darum bitten, mit dem »Arschgesicht« verbunden zu werden.
»Ist er nicht. Er hat praktisch den ganzen Tag irgendwelche Besprechungen und Termine, und ich glaube nicht, dass er vorhat, an einem Freitag vor einem langen Wochenende noch einmal in die Kanzlei zu kommen, wissen Sie.«
Cindy nickte, obwohl sie es nicht wusste. Als sie mit Tom verheiratet gewesen war, war ein Tag ziemlich genau wie der
andere gewesen. So etwas wie ein Wochenende hatte es nicht gegeben, von einem langen ganz zu schweigen. Er war immer in der Kanzlei. Genau wie Irena. »Wird er sich denn im Laufe des Vormittags noch mal melden?«
»Bestimmt.«
»Könnten Sie ihm bitte sagen, dass er mich so bald wie möglich anrufen soll? Es ist sehr wichtig.«
»Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie weiterhelfen?«, fragte Irena.
»Ich glaube nicht.« Cindy sah die attraktive Frau mittleren Alters vor sich, über ihren Schreibtisch gebeugt, die sommersprossigen Beine gekreuzt, während sie ihre kurzen blonden Haare hinters Ohr strich. Sie hatte praktisch von Beginn an über die langjährige Affäre Irenas mit ihrem Mann Bescheid gewusst. Sie hatte sich um die anderen Affären ihres Mannes gewunden wie Fäden in einem Gobelin, und Cindy fragte sich, ob sie weiter andauerte oder ob sie mit dem Auftauchen des Kekses zu Ende gegangen war. Der Lauf der Dinge, dachte sie müßig, als sie auflegte.
Im selben Moment klingelte das Telefon.
»Julia?« Cindy spürte ihr Herz in ihrer Brust klopfen und das Blut in ihren Ohren rauschen.
»Nein, Trish hier. Ich ruf bloß an, um zu fragen, wie es gestern Abend gelaufen ist.«
»Gestern Abend?«
»Dein Date mit Neil Macfarlane?«
»Mein Date mit Neil«, wiederholte Cindy und versuchte, sich zu beruhigen.
»Ist es nicht gut gelaufen?«
»Doch, es war super.«
»Einzelheiten«, drängte Trish und kicherte wie ein Teenager. »Ich brauche Einzelheiten. Erzähl mir alles.«
»Trish, kann ich dich später zurückrufen?«, bat Cindy. »Ich erwarte einen wichtigen Anruf.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles in Ordnung.«
Nach einer kurzen Pause sagte Trish: »Okay. Ruf mich später an.«
Cindy legte den Hörer auf die Gabel und starrte das Telefon wütend an. Warum hatte sie Trish nichts von Julia erzählt? »Verdammt, Julia. Ruf mich an«, sagte sie laut, und wie auf ein Stichwort klingelte tatsächlich das Telefon. »Julia?«
»Nein. Ich«, sagte ihre Schwester.
Cindy spürte ihre Schulter in Richtung Fußboden sacken. »Leigh, kann ich dich später zurückrufen?«
»Das soll wohl ein Witz sein, was? Bei dir war den ganzen Vormittag besetzt. Ich warte jedenfalls nicht darauf, dass du mich in deinen vollen Terminplan zwängst.«
»Ich erwarte bloß einen Anruf von Julia …«
»Ja, falls sie sich meldet, könntest du ihr bitte sagen, dass ich am kommenden Mittwoch um zwei Uhr einen neuen Termin für ihre Anprobe festgemacht habe. Wenn sie dann wieder nicht erscheint, kriegt Marcel ihr Kleid auf keinen Fall rechtzeitig fertig, was bedeuten würde, dass sie keine Brautjungfer werden kann.«
»Ich werde es ihr ausrichten.« Welchen Sinn hatte es, irgendetwas anderes zu entgegnen?
Sobald Cindy aufgelegt hatte, klingelte das Telefon ein weiteres Mal. »Hallo? Julia?«
»Hier ist Meg. Wie
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