Bevor der Abend kommt
schwarze Trainingshose
und hielt in der linken Hand eine große Plastikflasche Evian.
»Sie müssen Paul sein«, sagte Cindy, den Namen von Seans Mitbewohner aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins grabend. Sie streckte die Hand aus und drängte sanft in die stickige, ungelüftete Wohnung. Neil folgte ihr auf dem Fuß.
Der junge Mann lächelte misstrauisch. »Und Sie sind?«
»Das ist Neil Macfarlane, und ich bin Cindy Carver, Julias Mutter.«
Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes änderte sich kaum merklich. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mrs. Carver, Mr. Macfarlane. Entschuldigen Sie das Durcheinander.« Er blickte sich verlegen in dem unaufgeräumten L-förmigen Wohnzimmer um.
Cindy folgte seinem Blick. Bücher und Zeitungen bedeckten den hellbraunen Holzboden und das braune Cordsofa in der Mitte des Raumes. Eine auf vier Stapeln roter Backsteine liegende, stark zerkratzte Tür diente als Couchtisch. Auf dem kleinen Esstisch waren diverse alte Ausgaben des Toronto Star ausgebreitet wie ein Tischtuch. MANN ENTHAUPTET SEINE FRAU UND RUFT SIE DANN AN, brüllte eine Schlagzeile. MÖRDER BE-LAUERT SEIN OPFER DREI TAGE, verkündete eine andere.
»Sean recherchiert über abweichendes Verhalten«, erklärte Paul, der ihrem Blick gefolgt war. »Für ein Drehbuch, an dem er arbeitet.«
Cindy nickte und erinnerte sich daran, dass Julia einmal damit angegeben hatte, dass Sean ihr ein Drehbuch auf den Leib schreiben würde. Soweit Cindy wusste, suchte Sean nach wie vor einen Produzenten für seine Bemühungen und verdiente seinen Lebensunterhalt als Barkeeper im Fluid, einem angesagten Club in der Innenstadt. »Ist Julia in letzter Zeit hier gewesen?«, fragte sie bemüht beiläufig.
»Hab sie nicht mehr gesehen, seit …« Er verstummte verlegen. »Wahrscheinlich sollten Sie besser mit Sean reden.«
»Haben Sie eine Ahnung, wann er zurückkommt?«
»Nein. Ich war nicht hier, als er weggegangen ist.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir warten?«, fragte Cindy, ließ sich, ohne eine Antwort abzuwarten, auf dem Sofa nieder und legte ein zerlesenes Taschenbuch auf das Kissen neben sich. Es hieß Beute des Todes .
Paul zögerte. »Also ich … ich habe eine Verabredung zum Mittag und wollte eigentlich gerade unter die Dusche …«
»Oh, lassen Sie sich von uns nicht aufhalten«, ermutigte Cindy ihn. »Wir kommen schon klar.«
»Es könnte noch dauern, bis Sean zurückkommt.«
»Wenn er nicht da ist, bis Sie aufbrechen wollen, fahren wir wieder.«
»Gut. Das wird wohl gehen«, murmelte der junge Mann, vielleicht weil er Cindys Entschlossenheit spürte und keine Szene machen wollte. »Ich beeile mich.«
»Lassen Sie sich Zeit.«
Sobald Cindy die Dusche hörte, sprang sie auf.
»Was hast du vor?«, fragte Neil. »Wohin gehst du?«
Die zweite Frage zu beantworten war ungleich einfacher. »In Seans Zimmer«, sagte sie und fragte sich, welches der beiden Zimmer auf der Rückseite der Wohnung seines war. Sie öffnete die erste Tür und stellte dankbar fest, dass vor dem offenen Fenster mehrere Highschool-Football-Pokale mit Seans Namen aufgereiht waren.
Plakate populärer Filme bedeckten die Wände: Spider Man; Invasion of the Body Snatchers; From Hell, The Texas Chainsaw Massacre . Das Bild einer erschreckenden Gestalt mit lederner Maske, die eine Kettensäge vor sich hertrug wie einen riesigen Phallus, während hinter ihr eine hilflose junge Frau an die Wand gekettet war, ließ Cindy zusammenzucken. Sie erinnerte sich an den Film und hasste sich nun dafür, ihn gerne gesehen zu haben. Was war bloß mit ihr los, dass ihr so etwas gefiel?
»Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee ist«, flüsterte Neil gepresst, als er ihr in das winzige Zimmer folgte.
»Wahrscheinlich nicht«, gab Cindy zu und blickte von dem ungemachten Bett zu dem Schreibtisch voller Wasserflecken. Auf der einen Seite neben einem hellblauen iMac stand ein leerer Bilderrahmen, auf der anderen lag ein ordentlicher Stapel weißes Papier.
»Wonach suchst du eigentlich?«
»Ich weiß es nicht.« Cindy machte einen Schritt zurück und streifte dabei mit dem Knöchel den Papierkorb. Sofort fiel ihr Blick auf ein zerrissenes und zerknülltes Hochglanzfoto. Sie bückte sich und hob das zerstörte Foto ihrer Tochter mit zitternden Händen auf. »Das ist die neueste Porträtaufnahme von Julia. Sie hat sie erst vor ein paar Wochen machen lassen.« Vergeblich versuchte Cindy, die Falten aus dem Schwarzweißfoto zu streichen und das
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