Bevor der Abend kommt
darin?«
»Es ist mehr das, was ich nicht sehe.«
Cindy wusste ganz genau, was Faith meinte. Genau denselben Verlust von Substanz hatte sie in Toms Augen gesehen, lange bevor er gegangen war, so als hätte er sie innerlich längst verlassen. Trotzdem sagte sie: »Er ist wahrscheinlich bloß müde.«
»Nein, es ist mehr als das. Oder weniger«, verbesserte sie sich. »Ich glaube, er liebt mich nicht mehr.«
»Ich bin sicher, dass Ryan Sie liebt, Faith.« Cindy rief sich Ryans besorgte Miene ins Gedächtnis, mit der er neulich nachts, Elvis’ Kopf im Schoß, auf der Treppe vor seinem Haus gesessen hatte. Der feine Duft von Pfefferminz erfüllte den Raum, als Cindy die dampfende Tasse vor Faith auf den Tisch stellte. »Er sorgt sich bloß um Sie, das ist alles.«
»Sorge ist etwas anderes als Liebe.« Faith führte den Becher an die Lippen und stellte ihn eilig wieder ab. »Heiß.«
»Lieber ein paar Minuten abkühlen lassen.«
»Das hat meine Großmutter auch immer gesagt.« Die Erinnerung ließ Faith lächeln. »Lieber ein paar Minuten abkühlen lassen«, wiederholte sie mit einer Stimme, die nicht die ihre war. »Sie ist im vergangenen Jahr gestorben. An Krebs.«
»Das tut mir Leid.«
»Sie hatte ein wirklich schweres Leben. Ihr ältester Sohn hat sich umgebracht, müssen Sie wissen.«
»Wie furchtbar.«
»Ja. Mein Onkel Barry. Er war schizophren. Ich kann mich gar nicht richtig an ihn erinnern. Er ist gestorben, als ich noch klein war. Er hat sich im Badezimmer erhängt. Meine Großmutter hat ihn gefunden.« Faith führte den Becher ein zweites Mal an die Lippen und atmete den aromatischen Dampf ein, der von seiner Oberfläche aufstieg. »Selbstmord liegt bei uns irgendwie in der Familie.«
»Was?« Cindy kamen Detective Bartollis Fragen zum Gemütszustand
ihrer Tochter in den Sinn. War sie in letzter Zeit depressiv? Wie sehr hat sie die Trennung von ihrem Freund mitgenommen?
»Eine Großtante von mir hat sich von einem Hochhaus gestürzt«, berichtete Faith, »und zwei Cousinen haben sich die Pulsadern aufgeschnitten. Und einmal hat meine Mom auch zu viele Pillen geschluckt, aber dann hat sie die Nachbarn angerufen und ihnen erzählt, was sie getan hatte, sodass sie sie ins Krankenhaus gebracht haben, wo man ihr den Magen ausgepumpt hat.«
»Das ist ja schrecklich.« Cindy nippte vorsichtig an ihrem Tee, unsicher, was sie als Nächstes sagen sollte. »Sie würden doch nie …«
Julia würde nie …
»Was? Oh. Oh nein! Nein, natürlich nicht. Ich würde so etwas nie tun.«
»Weil die Dinge nie so schwarz sind, wie sie erscheinen«, sagte Cindy ernst, und das Klischee klebte in ihrem Mund wie ein Klumpen Watte. »Weil es immer irgendwie besser wird.« Es sei denn, es wurde schlimmer, fügte sie stumm hinzu.
»Ich bin nicht mutig genug, um mich umzubringen«, sagte Faith.
»Meinen Sie, das ist eine Frage des Mutes?«
War sie in letzter Zeit depressiv?
»Ich kenne Menschen, die Selbstmord für einen feigen Ausweg halten, aber so habe ich das nie gesehen. Ich meine, etwas so Drastisches zu tun, wie sich das eigene Leben zu nehmen, erfordert, glaube ich, enormen Mut. Mehr Mut, als ich habe, so viel ist sicher.«
»Gut.« Cindy unterdrückte ein Schaudern, als sie Faith gegenüber Platz nahm, weil sie sich vage an einen Artikel über die wellenartigen Auswirkungen eines Selbstmords erinnerte, in dem berichtet wurde, dass der Selbstmord eines Familienmitglieds wie eine Bestätigung für Suizidgedanken eines Verwandten
fungieren konnte, bis eine solche Tat als akzeptable Handlungsalternative erschien, eine reelle Möglichkeit, die eigenen Probleme zu lösen. Sie schüttelte den Kopf. Die Frauen in ihrer Familie waren vielleicht emotional, eigensinnig und impulsiv, aber definitiv nicht selbstmordgefährdet. Außerdem war ihnen viel zu viel daran gelegen, das letzte Wort zu behalten, als dass sie sich vorzeitig aus einer Diskussion verabschiedet hätten. »Denn Sie haben doch alles, wofür es sich zu leben lohnt«, hörte Cindy sich fortfahren. »Zugegeben, jetzt ist es hart. Sie machen eine sehr schwere Zeit durch. Sie sind erschöpft. Ihre Hormone spielen verrückt. Aber es wird besser. Glauben Sie mir. In einem Jahr werden Sie sich in jeder Hinsicht unendlich viel besser fühlen.«
»Glauben Sie, dass Ryan mich verlassen wird?«
»Ryan geht nirgendwohin, Faith.«
»Er sagt, dass er noch drei weitere Kinder will.«
»Was wollen Sie denn?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was ist mit Ihrem
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