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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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erklärte sie der Frau im Spiegel. »Das Zeug bringt dich noch um.«
    Ihr Spiegelbild nickte.
    Cindy beobachtete, wie die Frau sich durch ihr schlaffes Haar strich und ihre Augen sich langsam mit Tränen füllten. »Würde mich bitte jemand gleich jetzt erschießen, um mich von meinem Elend zu erlösen.«
    Ihr Spiegelbild ließ das Kinn auf die Brust sinken, und das Schweigen summte um ihre Köpfe wie angriffslustige Moskitos.
    »Du musst schlafen«, murmelte Cindy auf dem Weg zurück in ihr Bett, doch schon als sie wieder unter die Decke schlüpfte, wusste sie, dass sie jedweden Schlaf vergessen konnte und sich stattdessen in den Stunden bis sieben Uhr rastlos hin und her wälzen und immer nur kurz einnicken würde, sodass sie noch erschöpfter und müder wieder aufwachen würde. Sie schloss die Augen und versuchte, das aufsteigende Bild ihrer an Händen und Füßen gefesselten Tochter zu verdrängen, die auf dem dreckigen Boden eines verlassenen Schuppens verblutete. »Bitte nicht«, flüsterte sie in ihr Kissen und spürte es feucht an der Haut. »Bitte mach, dass Julia nichts passiert ist. Bitte mach, dass das alles nur ein böser Traum ist.« Ein schrecklich langer böser Traum, dachte Cindy, drehte sich auf die andere Seite, hörte Elvis neben sich knurren und wusste, dass der Alptraum grausame Wirklichkeit war und dass sie, wenn ihre Tochter nicht bald nach Hause kam, unweigerlich sterben würde, genau wie der imaginäre Arzt es prophezeit hatte.
    »Oh Gott.« Cindy richtete sich auf und ließ sich aufs Bett zurücksinken. Sie drehte sich auf die andere Seite, richtete sich auf, machte das Licht an, nahm das Taschenbuch von ihrem Nachttisch und starrte das Telefon an. Tom und der Keks schliefen garantiert problemlos. Sie stellte sich das Haus am Lake Joseph vor, das rustikale Schlafzimmer, das sie früher mit
Tom geteilt hatte, das große Fenster, durch das die kühle Muskoka-Brise hereinwehte. Das Bild ihres früheren Mannes im Bett mit seiner jungen Frau legte sich über die Seiten ihres Buches. Cindy wischte es verächtlich beiseite und riss dabei versehentlich eine Ecke ab. Sie las den ersten Absatz des Kapitels mehrere Male, bevor sie kapitulierte und das Buch ans Fußende des Bettes warf. Wie sollte sie lesen, wenn sie sich nicht konzentrieren konnte. »Wo bist du, Julia?«
    Hatte sie die Tatsache, dass ihre Eltern gemeinsam durchgebrannt waren, wirklich so romantisch gefunden? War es möglich, dass sie selbst das Gleiche getan hatte? Und wenn ja, mit wem?
    Komm einfach nach Hause, betete Cindy. Bitte. Komm nach Hause.
    Wenn sie nach Hause kommt, gelobte Cindy stumm, kaufe ich ihr die braunen Wildlederstiefel, die sie bei David’s bewundert hat und die ich für zu teuer erklärt habe.
    Wenn sie nach Hause kommt, lade ich sie zum Abendessen in ihr Lieblings-Sushi-Restaurant ein. Und zum Mittagessen. Und sogar zum Frühstück, wenn sie will.
    Wenn sie nach Hause kommt, werde ich nicht brüllen oder sie mit Belanglosigkeiten nerven. Ich werde versuchen, ihre Probleme zu verstehen, weniger kritisch sein, geduldiger, positiver. Ich werde die perfekte Mutter sein und die perfekte Freundin. Unser ganzes Leben wird perfekt sein, wenn sie nach Hause kommt.
    Wenn sie nach Hause kommt, wiederholte Cindy hoffnungsvoll in ihrem Kopf, wie sie es, seit es Julia gab, schon so oft getan hatte.
    Sie hatte ihre Tochter schon einmal verloren, und sie würde sie nicht noch einmal verlieren.
    Cindy stand auf, streifte ein rosa Baumwollnachthemd über den Kopf und schlich, dicht gefolgt von Elvis, auf Zehenspitzen zu Julias Zimmer. In der Tür blieb sie stehen und spähte zu
Julias Bett. »Ist da jemand?«, fragte eine Stimme, die durch die Dunkelheit schnitt wie ein Laserstrahl.
    Cindy stockte der Atem, als sich in dem Bett eine Gestalt aufrichtete und im selben Augenblick nach der Nachttischlampe tastete, in dem sie das Deckenlicht anmachen wollte. »Julia«, rief sie, streckte die Arme aus, ließ sie schwer wieder sinken und blieb so abrupt stehen, als würde sie in Zement waten.
    »Schatz«, sagte ihre Mutter leise, stieg aus Julias Bett und ging langsam auf sie zu. »Alles in Ordnung?«
    Cindy schüttelte den Kopf und löste damit einen stetigen Tränenfluss aus. »Es tut mir Leid. Ich hab vergessen, dass du hier bist.« Als Cindy ihr anvertraut hatte, dass Julia vermisst wurde, hatte ihre Mutter darauf bestanden, bei ihr zu übernachten. »Hab ich dich geweckt?«
    Ihre Mutter führte sie zu Julias Bett und setzte sich

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