Bevor der Abend kommt
Job?«
»Ich bin bis zum nächsten Jahr im Erziehungsurlaub. Aber ich glaube, ich sollte nicht in den Beruf zurückkehren.«
»Warum nicht? Ich dachte, Sie sind gerne Lehrerin.«
»Wie soll ich mit 25 Kindern zurechtkommen, wenn ich nicht mal auf eins aufpassen kann.«
Cindy sah die düsteren Wolken, die sich in Faiths Augen zusammenbrauten, während sie kontinuierlich an ihrem Tee nippte. »Na ja, im Augenblick müssen Sie ja keine größeren Entscheidungen treffen.«
»Da haben Sie wohl Recht.«
»Sie haben alle Zeit der Welt.«
In Faiths Augen schimmerten Tränen. »Ryan ist in letzter Zeit immer so beschäftigt. Ich sehe ihn kaum noch.« Sie zog in einem ausladenden Achselzucken die Schultern an die Ohren. »Als er bei Granger, McAllister angefangen hat, war es noch
eine winzige Firma. Jetzt arbeiten dort sieben Architekten, Sekretärinnen, Assistentinnen, so viele Leute, und alle sind immerzu beschäftigt. Ständig muss er ganz dringend irgendwohin. Dieser Tee ist wirklich lecker«, sagte sie und leerte ihren Becher.
»Möchten Sie noch einen?«
»Oh nein, vielen Dank. Ich sollte jetzt besser nach Hause gehen. Ich habe Ryan versprochen, dass ich versuchen will, ein bisschen aufzuräumen. Er sagt, das Haus sieht aus wie ein Schweinestall.«
»Warum machen Sie nicht vorher einen Mittagsschlaf«, schlug Cindy vor und hörte im selben Moment einen Wagen vorfahren. Julia, dachte sie, sprang auf und stürzte in den Flur. Als sie die Haustür aufriss, sah sie noch das Taxi, das rückwärts zurück auf die Straße setzte, und ihre Mutter, die fröhlich begrüßt von Elvis in Richtung Haustür stapfte.
»Was ist los?«, fragte ihre Mutter, ohne den Hund zu beachten. »Und erzähl mir nicht, es wäre gar nichts. Ich erkenne es an deinem Gesicht. Wer ist das?« Cindy folgte dem Blick ihrer Mutter und drehte sich um.
»Mom, das ist Faith Sellick, meine Nachbarin. Faith, das ist meine Mutter.«
»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Faith trat nach draußen und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. »Und nochmals vielen Dank für den Tee.«
»Sie müssen nicht meinetwegen gehen«, sagte Cindys Mutter.
»Nein, ich wollte sowieso gehen. Ich habe so viel zu tun.«
»Erst müssen Sie Ihren Mittagsschlaf machen.«
»Richtig«, sagte sie tonlos und schlenderte die Treppe vor dem Haus hinunter.
»Mit der stimmt irgendwas nicht«, bemerkte ihre Mutter, als Faith außer Hörweite war.
»Sie ist die Frau, von der ich dir gestern erzählt habe. Die mit den postnatalen Depressionen.«
Ihre Mutter nickte. »Und willst du mich jetzt hereinbitten und mir erzählen, was Tom hier gemacht hat?«
Cindy führte ihre Mutter in die Küche und wies auf den frei gewordenen Stuhl. »Ich glaube, du setzt dich besser hin.«
11
Um Punkt 2 Uhr 29 nachts schreckte Cindy hoch und richtete sich kerzengerade in ihrem Bett auf. »Oh nein, ich habe es vergessen!« Sie sprang aus dem Bett und stürzte ins Bad, begleitet von dem aufgeregt in die Luft springenden Elvis, der das Ganze für ein aufregendes neues Spiel hielt. Um ein Haar wäre Cindy über ihn gestolpert, als sie den Medizinschrank aufriss und versuchte, sich auf die Sammlung von Kopfschmerztabletten, aufgerissenen Pflasterpackungen, halb ausgedrückten Salbetuben, vergessenen Zahnseiderollen und nicht mehr benutzten Haargels zu konzentrieren, die sich ihrem schläfrigen Blick darbot. Das Geröll des Alltags, dachte sie, griff in den Schrank und hoffte, dass es noch nicht zu spät war. Der Arzt hatte sie gewarnt, dass sie sterben würde, wenn sie ihre Tabletten nicht jeden Tag zur selben Zeit einnahm. Wie lange war das jetzt her? Wochen, Monate, Jahre? Wie lange war es her, seit sie zum letzten Mal daran gedacht hatte, ihre Pillen zu nehmen? Oh nein. Oh nein.
»Was zum Teufel mache ich hier?«, fragte sich Cindy unvermittelt, als sie nun hellwach ihr Spiegelbild anstarrte und die Frau, die zurückblickte, betrachtete, als wäre sie ein außerirdisches Wesen. »Was ist los mit dir? Was für Tabletten?«
Langsam versuchte Cindy, sich zu orientieren, während ihre Panik nach und nach abebbte und ihr Herzschlag sich wieder beruhigte. Sie stand mitten in der Nacht nackt in ihrem Badezimmer und durchsuchte den Medizinschrank nach Tabletten, die es nicht gab, verschrieben von einem Arzt, der nicht existierte. Sie hatte offensichtlich einen weiteren Alptraum gehabt,
obwohl sie sich an Einzelheiten nicht erinnern konnte. »Das ist der verdammte Kräutertee«,
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