Bevor der Abend kommt
hörte sie den Regisseur sagen und fragte sich, ob er anderen dieselbe Frage über Julia gestellt hatte. »Er behauptet, er könnte sich nicht an sie erinnern, weil es so viele Mädchen gewesen wären …« Ihre Stimme brach. Aber dann hatte er zugegeben, wie gut sie gewesen war. Und wie konnte jemand Julia vergessen?
»Iss was zu Mittag«, drängte Norma Appleton ihre Tochter und schob die Frauen in die Küche.
»Ich hab keinen Hunger.«
»Deine Mutter hat uns erzählt, was los ist«, sagte Meg. »Was du durchmachst, ist einfach unvorstellbar.«
»Was sagt die Polizei?«, fragte Trish.
Cindy zuckte die Achseln. »Sie meinen, es wäre noch zu früh, um in Panik zu verfallen.«
»Sie haben Recht.«
»Ich weiß.«
»Aber das hilft dir auch nicht weiter, oder?«
»Nein.«
Trish drückte sie an sich und setzte sich neben sie, während Meg einen weiteren Stuhl heranzog und den Arm um Cindy legte.
»Wo ist Heather?«, fragte Cindy.
»Ausgegangen. Sie hat gesagt, sie würde irgendwann später wiederkommen.« Norma Appleton stand in der Tür und trat unentschlossen von einem Fuß auf den anderen. »Ich glaube, ich gehe nach oben und gucke ein bisschen Fernsehen«, verkündete sie schließlich. »Komm, Elvis, du kannst mir Gesellschaft leisten. Meg«, rief sie vom oberen Treppenabsatz, »achte darauf, dass sie etwas isst.«
»Mach ich«, rief Meg zurück und sagte dann leise: »Macht sie dich wahnsinnig?«
»Nur ein bisschen.«
»Ich weiß noch, wie meine Mutter nach Jeremys Geburt gekommen ist, um mir zu helfen«, setzte Trish an. »Was für eine Zeit!«
»Trish«, sagte Meg, »das ist zwanzig Jahre her.«
»Ich bin immer noch ganz benommen.«
Cindy lachte, ein zögerndes Plätschern, das zitternd in der Luft hängen blieb.
»Sie ist aus Florida eingeflogen und mitten während eines gigantischen
Schneesturms gelandet, das Flugzeug hatte drei Stunden Verspätung, und sie war wütend, weil niemand zum Flughafen kommen konnte, um sie abzuholen, sodass sie, Gott bewahre, eine Limo nehmen musste. Als sie schließlich in unsere Wohnung marschierte, beschwerte sie sich über alles, was kanadisch war, vor allem über ihre älteste Tochter, die so rücksichtslos gewesen war, ausgerechnet im Februar zu gebären. Ich höre sie bis heute sagen – ausgerechnet im Februar ! Dann hat sie mehrere Wochen lang nur Verwüstung angerichtet. Nichts konnte ich ihr recht machen. Wie hatte ich während meiner Schwangerschaft derart zunehmen können? Warum stillte ich, obwohl ich wahrscheinlich gar nicht genug Milch produzierte? Ich würde mir ein verdammt verwöhntes Gör heranziehen, wenn ich das Baby immer sofort fütterte, wenn es schrie. Jedes Mal, wenn ich es hochhob, konnte ich förmlich hören, wie sie entsetzt die Luft anhielt. Sein Kopf! Achte auf seinen Kopf! Als ob ich komplett schwachsinnig wäre. Und anschreien konnte ich sie natürlich auch nicht, sodass ich alles an Bill ausgelassen habe. Das hätte unsere Ehe um ein Haar gleich damals beendet. Kein Wunder, dass Jeremy ein Einzelkind ist.«
»Die gute alte Familie.« Meg schüttelte den Kopf. »Man muss sie einfach lieben.«
»Wirklich?«, fragte Trish.
»Was bleibt einem am Ende sonst?«
»Freundinnen«, sagte Cindy und griff nach den Händen der beiden, während sie versuchte, das ferne Echo von Toms Stimme zu überhören. Freunde , hatte er abschätzig gesagt. Freunde kommen und gehen . Das erklärte vermutlich auch Julias Drehtür-Philosophie von Freundschaft.
»Dann erzähl deinen Freundinnen mal genau, was los ist«, sagte Trish.
Cindy erzählte sofort in allen Einzelheiten vom vergangenen Donnerstagmorgen, von dem Chaos, das um ihre letzten Momente mit Julia geherrscht hatte.
»Ihr habt euch also gestritten«, resümierte Trish.
»Wir haben uns nicht gestritten.«
»Schon gut. Ihr habt euch nicht gestritten. Du warst wütend …«
»Ich war nicht wütend.«
»Okay. Du warst nicht wütend.«
»Vielleicht ist das Casting nicht gut gelaufen«, mutmaßte Meg wie so viele andere vor ihr. »Vielleicht brauchte sie einfach ein bisschen Abstand.«
»Könnte es einen neuen Mann in ihrem Leben geben?«, fragte Trish.
» Sie ist seit fünf Tagen verschwunden «, unterbrach Cindy ihre Freundinnen, jedes Wort einzeln betonend.
»Ja, aber …«
»Aber was?«
»Wir reden hier schließlich von Julia«, erinnerte Trish sie.
»Du weißt doch, wie sie sein kann«, ergänzte Meg.
»Glaubt ihr ernsthaft, sie wäre so rücksichtslos, so lange zu
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