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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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verschwunden.«
    »Sie glauben doch nicht etwa, dass ich etwas mit Julias Verschwinden zu tun habe, Mrs. Carver.«
    »Hast du?«
    »Nein!«
    Cindy ließ sich auf ihr Kissen zurücksinken. Dachte sie wirklich, dass der junge Mann, den sie in ihrem Haus willkommen geheißen hatte und der der Freund ihrer jüngeren Tochter war, in irgendeiner Weise für das Verschwinden ihrer älteren Tochter verantwortlich war? Konnte sie das ernsthaft glauben? Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.
    Duncan stand schweigend mit schlaff herabhängenden Armen in der Tür. »Vielleicht sollte ich heute lieber bei Mac übernachten«, sagte er schließlich. »Wahrscheinlich ist es Ihnen lieber, wenn ich nicht hier bleibe.«
    Cindy sagte nichts.
    »Ich hol nur ein paar Sachen.«

    Cindy hörte ihn den Flur hinunterschlurfen. Sie überlegte, ob sie ihm nachlaufen, ihn zu Boden zerren und ein Geständnis aus ihm herausprügeln sollte. Dann fiel ihr ihre Mutter ein, die in Julias Bett schlief. Welchen Sinn hätte es, eine Szene zu machen und sie aufzuwecken? Duncan würde gar nichts zugeben. Und glaubte sie tatsächlich, dass er etwas zu gestehen hatte?
    Cindy hörte ihn im Kleiderschrank wühlen. Kurz darauf sah sie seinen Schatten an ihrem Zimmer vorbeihasten. Er ging, ohne sich zu verabschieden.
     
    »Wie ist es Ihnen ergangen, Mrs. Carver?«, fragte der Arzt, dessen Gesicht immer wieder vor ihren Augen verschwamm. Er war ein großer Mann mit Vollbart, buschigen Augenbrauen und schütterem, grauem Haar.
    »Ich habe mich schon besser gefühlt«, sagte Cindy und zupfte das weiße Laken über ihren Brüsten zurecht.
    »Haben Sie daran gedacht, Ihre Tabletten zu nehmen?«
    Cindy rieb sich die Augen und sah, wie die Gesichtszüge des Arztes verflachten und verrutschten. »Was für Tabletten?«
    »Es ist sehr wichtig, dass Sie Ihre Tabletten nehmen, Mrs. Carver«, sagte der Arzt. »Wenn Sie Ihre Tabletten nicht nehmen, werden Sie sterben.«
    »Oh nein!« Cindy richtete sich abrupt in ihrem Bett auf. »Ich hab es vergessen. Ich hab es vergessen.« Mit pochendem Herzen war sie bereits auf halbem Weg ins Bad, als sie unvermittelt stehen blieb. »Welche Tabletten?«, fragte sie laut, blickte zu dem noch laufenden Fernseher und erinnerte sich, dass sie irgendwann kurz vor Mitternacht davor eingeschlafen war. Nun stand sie mitten in der Nacht nackt in ihrem Zimmer, gefangen in einem wiederkehrenden Alptraum, der ihr Leben war. »Welche Tabletten?«, fragte sie sich erneut, sank zu Boden und starrte auf einen gut aussehenden Mann in einem orangefarbenen Overall, der mit mürrischem Blick auf dem Bildschirm hin und her wanderte. Die Kamera schwenkte auf seine
mit Handschellen gefesselte Hände, während sein dunkelbrauner Lockenkopf unsanft in einen wartenden Streifenwagen gedrückt wurde.
    Erst nach einer Weile begriff Cindy, dass der Mann, den sie betrachtete, Ted Bundy war, der berüchtigte Serienmörder dutzender, vielleicht sogar hunderter junger Frauen. Obwohl ihr ein Schauder über den Rücken lief, konnte sie sich nicht abwenden, wie gelähmt von der tiefen Stimme des Sprechers und dem bodenlosen Blick des Mörders. » Sehen Sie gleich: Ted Bundys todesmutige Flucht «, erklärte der Sprecher ernst. » Nach einer kurzen Pause geht es weiter mit American Justice.«
    Was war nur mit Julia geschehen, musste Cindy sich immer wieder fragen. War sie einem Mann begegnet, dessen jungenhaftes Aussehen das Herz und die Seele eines geistesgestörten Killers verbarg? Hatte er sie in seinen Wagen gelockt, sie mit seinem Charme überredet, zu ihm zu fahren? Hatte sie versucht, sich zu wehren? Hatte er Drogen oder Ketten benutzt, um sie zu bändigen? Hielt er sie in irgendeiner unterirdischen Höhle gefangen?
    Dort draußen gab es so viele Wahnsinnige, dachte Cindy. So viele Männer, von Sinnen vor Wut. Hatte einer von ihnen seinen zornigen Wahn an ihrer Kleinen ausgelassen?
    Als sie sich erhob, füllte Ted Bundys Lächeln erneut den Bildschirm, und ihr war, als wollte sein irrer Blick sie direkt herausfordern.
    » Der Junge von nebenan «, verkündete der Sprecher, als Cindy nach der Fernbedienung griff. Für einen Kulturund Unterhaltungssender wurde detaillierten Beschreibungen grausiger Morde reichlich viel Sendezeit gewidmet, fand Cindy und schaltete den Fernseher aus. Sofort versank das Zimmer in Finsternis, als hätte der Fernseher alles Licht geschluckt. Es frisst seine Jungen, dachte sie, trat ans Fenster, schob die Gardinen beiseite und starrte

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