Bevor der Abend kommt
starrte Julia sie von der anderen Seite des Raumes an.
Mit angehaltenem Atem richtete sie sich auf und sah, dass das vertraute Foto ihrer Tochter den ganzen Bildschirm füllte. Cindy stürzte darauf zu und strengte sich an, die Stimme des Sprechers zu hören, doch die einzelnen Worte kamen nicht an. Sie griff nach der Fernbedienung, um lauter zu stellen, doch sie lag nicht an ihrem gewohnten Platz neben ihr. »Wo bist du, verdammt noch mal?«, sagte sie und tastete hektisch über die Falten der blau-weiß geblümten Überdecke. Sie erinnerte sich vage, das Teil irgendwann früher Richtung Fußende geworfen zu haben. Wie lange war das her, fragte sie sich, blickte zur Uhr und stellte fest, dass es trotz des grauen Himmels erst kurz nach sechs und damit noch Stunden vor Einbruch der Dunkelheit war.
Sie musste eingeschlafen sein, dachte sie, als sie mit der Hand auf die Fernbedienung stieß und sie versehentlich vom Bett fegte, sodass sie mit einem dumpfen Aufprall auf dem Teppichboden landete und außer Sichtweite rutschte.
Sofort war Cindy aus dem Bett und auf allen vieren, der abgestandene Geruch des Teppichs stieg ihr in die Nase, als sie die Wange auf die weichen Fasern presste. Sie hob die weiße Staubschutzrüsche an und steckte den Kopf unters Bett, während sie mit der Hand im Dunkeln tastete, bis sie das störrische Gerät erspürt hatte. »Verdammt«, fluchte sie, als sie sich beim Aufstehen den Kopf stieß, während sie die Fernbedienung auf den Fernseher richtete wie eine Pistole und lauter
stellte, bis die Stimme des Sprechers sie förmlich anbrüllte. Aber er sprach nicht mehr über Julia. Das Bild ihrer Tochter war von einer Luftaufnahme von Kanadas Wonderland ersetzt worden, wo, wie der Sprecher ernst erklärte, vor wenigen Stunden ein kleiner, achtjähriger Junge sexuell belästigt worden war.
Cindy wechselte den Sender. Ein Getreidefeld tauchte auf. Erst nach einer Weile begriff Cindy, dass sie eine alte, verfallene Scheune in einem Meer aus hin und her wogendem Mais betrachtete. »Oh nein.« Cindy schlug die Hand vor den Mund, um den aufsteigenden Schrei zu unterdrücken. Man hatte Julias Leiche in einem verlassenen Schuppen unweit der KingSide Road gefunden. Seans Geschichte hatte sie zu ihren verstümmelten Überresten geführt. »Nein. Nein. Nein.«
»Cindy!«, rief ihre Mutter, während Elvis irgendwo neben ihr zu bellen anfing. »Cindy, was ist los?«
Plötzlich war ihre Mutter an ihrer Seite, löste die Fernbedienung aus der Hand ihrer Tochter und drehte die Lautstärke auf ein normales Level herunter. Erst jetzt registrierte Cindy, was der Sprecher sagte, und begriff, dass das fragliche Maisfeld nirgendwo in der Nähe der Kingside Road, sondern vielmehr draußen in Midland war, der Bericht von einer Maisrekordernte handelte und absolut nichts mit Julia zu tun hatte.
»Ich dachte …«
»Was, mein Schatz?«
»Julia …«
»Haben sie etwas über Julia gebracht?« Ihre Mutter begann, die Sender durchzugehen.
»Ich habe ihr Bild gesehen. Sie haben über sie gesprochen.« Hatten sie das wirklich, oder hatte sie es nur geträumt?
Und dann war sie wieder da: der zur Seite geneigte Kopf, die strahlenden Augen, das glatt auf die Schulter fallende blonde Haar und das wissende Lächeln.
»Mach lauter, mach lauter.«
» Die Polizei sucht nach Hinweisen im Fall der vermissten einundzwanzigjährigen Julia Carver, Tochter des bekannten Show-Business-Anwalts Tom Carver. Zuletzt gesehen wurde die aufstrebende junge Schauspielerin am vergangenen Donnerstag, dem 29. August, als sie ein Casting bei dem berühmten Hollywood-Regisseur Michael Kinsolving verließ .«
Julias Bild wurde von einem Foto von Michael Kinsolving ersetzt, der die Arme um zwei üppige blonde Starlets gelegt hatte.
» Die Polizei hat den prominenten Regisseur befragt, der sich zu einer Preview seines neuesten Films auf dem Toronto International Film Festival und auf Location-Suche für sein nächstes Projekt in der Stadt aufhält. Sie betont jedoch, dass er im Fall des Verschwindens der jungen Frau nicht als Verdächtiger gilt .«
Das nichts sagende Gesicht des Nachrichtensprechers ersetzte das von Michael Kinsolving, während Julias Foto in einem kleinen Rechteck in der oberen rechten Bildecke eingeblendet wurde. » Wer Hinweise über den Aufenthaltsort von Julia Carver hat, sollte sich dringend mit seiner örtlichen Polizeidienststelle in Verbindung setzen .«
»Damit ist es wohl amtlich«, sagte Norma Appleton und ließ
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