Bevor der Abend kommt
in den Garten. Der Mond stand nur
als schmale Sichel am Himmel und war zum größten Teil durch den hohen Ahornbaum verdeckt, der in der Mitte des ungepflegten und überwucherten Vorgartens der Sellicks stand. Cindy dachte müßig, dass sie sich dringend um den Zedernholzzaun kümmern musste, der die beiden Grundstücke trennte. Am Ende des Gartens bog er sich nach innen und drohte, dem ausladenden Gewicht eines Sumachs zu erliegen. Wenn nun noch ein wenig Schnee darauf fiel, würde er komplett zusammenbrechen.
Und »Gute Zäune machen gute Nachbarn«, erinnerte sie sich an den Vers von Robert Frost, dachte an den kommenden Winter und stellte sich vor, wie es in drei Monaten sein würde. Würde sie dann noch immer am Fenster ihres Schlafzimmers stehen, in die Dunkelheit starren und darauf warten, dass ihre Tochter nach Hause kam?
Und dann sah sie sie.
Sie saß auf der untersten Stufe der Treppe, die von der Terrasse hinter der Küche in den Garten führte, und auch wenn Cindy ihr Gesicht nicht erkennen konnte, wusste sie sofort, dass es Julia war. »Julia. Mein Gott – Julia!« Sie zog ihren Frottébademantel an und rannte, dicht gefolgt von Elvis, die Treppe hinunter. Sie lief in die Küche, öffnete die Glasschiebetür und stürmte nach draußen, wo die kühle Luft ihr ins Gesicht schlug wie ein feuchtes Handtuch. »Julia!«, rief sie, und das Mädchen auf der untersten Stufe sprang auf und wich ein paar Schritte in die Dunkelheit zurück.
»Nein, Mom. Ich bin’s.«
»Heather?!«
»Du hast mir einen Schrecken eingejagt. Was machst du hier?«
»Was ich hier mache? Was machst du hier?«, wollte Cindy wissen. »Es ist schon nach drei.«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Ich hab dich aus dem Schlafzimmerfenster gesehen. Ich dachte, du wärst Julia.«
»Tut mir Leid«, sagte Heather. »Ich bin’s nur.« Dabei klang ihre Stimme seltsam stockend und abgewürgt.
»Weinst du?«, Cindy stieg vorsichtig die Stufen hinunter, als wäre ihre Tochter ein streunendes Kätzchen, das weglaufen könnte, wenn sie sich zu schnell bewegte.
Heather schüttelte den Kopf, und ein Streifen Mondlicht fiel auf ihr Gesicht und ließ die noch feuchten Tränenspuren schimmern.
»Was ist los, Schätzchen? Und erklär mir bitte nicht, es wäre gar nichts«, fügte sie hinzu, als Heather eben diese Worte auf den Lippen hatte. »Ist es wegen Duncan?«
Heather wandte sich ab. »Wir haben uns getrennt«, gab sie nach einer langen Pause zu.
»Ihr habt euch getrennt? Wann?«
»Heute Abend.«
»Warum?«, fragte Cindy leise.
»Ich weiß nicht.« Heather atmete langsam aus und warf die Hände in die Luft. »Wir haben uns in letzter Zeit dauernd gestritten.«
»Wegen Julia?«
Heather wirkte verwirrt. »Wegen Julia? Nein. Was hat Julia damit zu tun?«
»Worüber habt ihr euch denn gestritten, Schätzchen?«, fragte Cindy, ohne auf Heather einzugehen.
Heather schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Über alles. Über gar nichts. Es ist einfach zu blöd.«
»Was denn?«
»Vor ein paar Wochen waren wir auf einer Party«, begann Heather langsam, »und ich habe mit diesem Typ geredet. Ich habe bloß mit ihm geredet. Es war gar nichts dabei, aber Duncan fand, ich hätte mit ihm geflirtet, und wir hatten einen Riesenstreit. Danach hab ich geglaubt, alles wäre geklärt, aber letzte Woche ging es wieder los. Ich war mit Sheri und Jessica in diesem Club, und Duncan war echt sauer deswegen. Er hat gesagt,
ich sollte nicht ohne ihn in solche Läden gehen. Und ich hab gesagt: Wieso nicht? Ich mach doch nichts Verbotenes. Warum kann ich nicht mit meinen Freundinnen ausgehen und Spaß haben? Daraufhin meinte er, wenn es das wäre, was ich wollte, könnte ich auch jeden Abend mit meinen Freundinnen ausgehen. Heute Abend hatten wie wieder einen dicken Streit, und Duncan war ziemlich betrunken, und ich war wütend und bin mit Jessica gegangen. Und als ich nach Hause gekommen bin, hab ich gesehen, dass seine Sachen nicht da waren, also hab ich ihn bei Mac angerufen, und er hat gesagt, dass er nicht zurückkommen würde und das es zwischen uns aus ist.«
»Oh, meine Süße, das meint er nicht so.«
»Doch. Er sagt, dass er nichts mehr mit uns zu tun haben will und dass wir alle verrückt wären. Wieso sagt er so was?«
»Ich weiß es nicht«, log Cindy und dachte an ihre Konfrontation mit Duncan.
»Hast du ihn getroffen, als er nach Hause gekommen ist?«
»Ja«, gab Cindy zu.
»Und?«
»Er war ziemlich betrunken.«
»Was hast du zu ihm
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