Bevor der Morgen graut
nickte ihr zu, aber die Frau beachtete sie nicht, sondern schien völlig in ihrer eigenenWelt zu sein. Das war auch einer der Vorteile, wenn man erst so spät kam. Bei Hochbetrieb war die Umkleidekabine brechend voll, und alles ging drunter und drüber, was Dóra unangenehm fand. Sie wollte nicht unter Zeitdruck stehen, wenn sie die letzten Dehnübungen unter der heißen Dusche machte.
23:20
B irkir hatte nichts gegen eine abendliche Spritztour im Auto, dabei hatte er auch Zeit zu überlegen. Er fuhr vom Polizeipräsidium los und nahm den Weg nach Osten aus der Stadt heraus. Was für Gewehre waren das eigentlich, die Hjördís dem Anschein nach dort aufbewahren oder verstecken wollte? Sie konnte doch mit den Morden an Ólafur und Friðrik gar nichts zu tun gehabt haben. Sie war tatsächlich in Akureyri gewesen, das war bestätigt worden. Warum musste sie diese Waffen verstecken? Steckte sie mit jemand anderem unter einer Decke? All das ging Birkir während dieser zwanzig Minuten im Kopf herum, die er brauchte, um bis zur Abzweigung in die Bláfjöll zu gelangen.
Als er sich dem Skigebiet näherte, verlangsamte er die Geschwindigkeit und betrachtete die Landschaft. Es war wolkenlos, und der Mond tauchte die schneelosen Hänge in ein kaltes Licht. Zwar konnte man hie und da ein paar Schluchten mit vereinzelten Schneewehen sehen, aber ansonsten war alles schwarz. Es würde noch lange dauern, bis hier gute Schneeverhältnisse herrschten. Die hohen Masten der Skilifte standen wie versteinerte Trollgestalten in gerader Linie vom Fuße der Berge bis zu den Gipfeln. Die Kabel und Sessel sah man jedoch kaum, höchstens wie Schattenrisse, die sich gegen den nachtblauen Himmel abzeichneten.
Bei der ersten Skihütte war keinerlei Lebenszeichen zu sehen, und auch kein Auto stand davor. Etwas weiter entfernt befanden sich aber noch andere Hütten, und Birkir hielt darauf zu. Vor einer sah er Jóhanns BMW stehen und daneben ein älteres Motorrad. In einem der Fenster war Licht. Birkir stellte das Auto ab und stieg aus. Es waren bestimmt nicht weniger als fünf bis zehn Grad Frost, doch da kein Wind ging, spürte er die Kälte nicht so sehr, zumal er sich auch seinen warmen Daunenparka über den Anzug gezogen hatte. Er genoss es eine Weile, die frische Luft einzuatmen, den Himmel zu betrachten und der Stille zu lauschen.
23:30
G unnar war endlich mit seinem ausführlichen Bericht über die genauen Umstände von Vilhjálmurs Tod fertig. Die Geschichte als solche war zwar nicht sonderlich lang, aber es galt ja, alle Details zu berücksichtigen. Außerdem musste er noch einmal Ragnars frühere Zeugenaussage durchgehen und alles anführen, was dieser bewusst falsch ausgesagt hatte. Ragnar wartete geduldig und las sich den Bericht anschließend sorgfältig durch. Als er fertig war, korrigierte er ein paar Rechtschreibfehler und setzte schließlich mit zierlicher Schrift seinen Namen darunter.
»Weißt du, ob es im Gefängnis in Litla-Hraun im Sommer die Möglichkeit gibt, Gartenarbeit zu verrichten?«, fragte er. Er erhielt keine Antwort von Gunnar, der im Stillen der Meinung war, dass diese Frage das Maß voll machte. Grund genug, den Abend in der Kneipe zu beenden. Símon war dafür zuständig, den Gefangenen im Untersuchungsgefängnis abzuliefern. Gunnars Arbeitstag war zu Ende.
In der Kneipe am Smiðjustígur war aber niemand, den Gunnar kannte oder kennen wollte, deswegen hielt er sich mit seinem Bitter und seinem Bier am Tresen. Diesmal beschloss er, den Bitter erst in Angriff zu nehmen, wenn das Bierglas halb leer war. Das tat er manchmal, wenn er großen Durst hatte. Und der Ausgang des Schwiegervater-und-Schwiegersohn-Dramas hatte ihn sehr durstig gemacht.
»Hallo, fetter Bulle«, erklang es hinter ihm. »Gibst du mir ein Bier aus?«
Gunnar zeigte für den Barkeeper mit dem Finger auf sein Glas, streckte den Finger hoch und sagte, noch bevor er sich umdrehte. »Grüß dich, Kolbrún. Und vielen Dank fürs letzte Mal.«
»Du musst doch hoffentlich nicht heute Abend wieder in die Bibliothek?«
»Nein, nicht unbedingt. Bist du mit deinem Motorrad da?«
»Nein, heute Abend nicht. Ich hab’s jemandem geliehen. Mir steht der Sinn danach, mir einen zu genehmigen, denn ich muss morgen erst nachmittags im Fischladen sein, deswegen kann ich mir das leisten. Erinnerst du dich daran, was du mir versprochen hast?«
»Ja, ich werde mir den Nachlassverwalter vorknöpfen, muss bloß noch rausfinden, wer das ist. Und dann versuche
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