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Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
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gleichzeitig erschien eine neue Mail mit der Betreff-Zeile: »Zu spät. Heute Nacht mache ich Jagd auf einen Bullen.«
    Símon lief es kalt den Rücken herunter.
    »Verdammte Scheiße«, wiederholte er ein ums andere Mal.
    Als er die Mail öffnete, enthielt sie abgesehen von der Betreff-Zeile keinen Text. Plötzlich markierte Símon ohne zu überlegen die Mail und drückte auf die Löschtaste. Die Message verschwand. Dann schickte er die Mail mit Gunnars Antwort ab. In Schweiß gebadet blieb er noch eine Weile vor dem Computer sitzen und dachte über den nächsten Schritt nach. Falls er Glück hätte, würde niemand merken, dass die Antwort zu spät abgeschickt worden war. Aber was für einen Bullen wollte der Ganter jagen? Was sollte er tun?
    Er stand auf und stolperte auf den Korridor hinaus. Gunnar und Ragnar waren noch im Verhörzimmer und aßen eine Pizza, beziehungsweise Gunnar aß, und Ragnar schaute verwundert zu.
    Als Gunnar Símon erblickte, warf er einen Blick auf die Uhr. »Neue Frage?«
    »Nein.« Símon schüttelte den Kopf.
    »Du bleibst am Ball.«
    »Ja.«
    »Super. Und nachher bringst du unseren Freund hier ins Untersuchungsgefängnis.« Gunnar deutete auf Ragnar.
    »Ja«, antwortete Símon. »Meinst du, dass wir auch in Gefahr sind?«
    »Wie meinst du das?«
    »Glaubst du, dass der Ganter uns was antun würde?«
    »Uns?«
    »Ja.«
    »Nein, wir sind nicht mehr gefährdet als andere. Magst du ein Stück von der Pizza?«
    Símon schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Appetit, aber trotzdem fühlte er sich ein wenig besser. Es kam ihm so vor, als hätte Gunnar ihn aus einer Schlinge befreit. Hoffentlich war das bloß ein Scherz des Ganters gewesen.

22:20
    A ls Dóra alle anliegenden Arbeiten erledigt hatte, ging sie ins Fitness-Studio, das glücklicherweise bis Mitternacht geöffnet hatte. Sie kam selten vor zehn Uhr abends zum Training, aber das passte ihr gut. Wenn sie geistig am Ende ihrer Kräfte war, tat es gut, an die Geräte zu kommen und sich auch körperlich auszupowern. Danach konnte sie besser schlafen.
    Sie hatte ihren Bericht über das Gespräch mit Bára Vilhjálmsdóttir fertig gestellt, ein Gespräch, das gar keines gewesen war, weil die arme Frau kein einziges verständliches Wort herausgebracht hatte. Das Schicksal dieser kleinen Familie war tieftraurig. Dóra zweifelte stark daran, ob sie Bára mit der Aufklärung des Mordes an ihrem Vater einen Gefallen getan hatten. Wahrscheinlich wäre es besser für sie gewesen, wenn ihr Ehemann weiterhin bei ihr hätte bleiben und sich um sie hätte kümmern können. Das wäre womöglich auch eine ausreichende Strafe fürihn gewesen. Es war abzusehen, dass diese Frau von jetzt an in einem Heim untergebracht werden musste.
    Dóra hielt sich genau an ihren Übungsplan, um die Schenkelmuskeln zu trainieren. Sie war nach dem Beinbruch noch längst nicht voll wiederhergestellt, und ihr rechter Oberschenkel war immer noch deutlich dünner als der linke. Alle drei Wochen ging sie zum Physiotherapeuten, der mit ihr arbeitete. Sie hoffte stark, im Februar wieder Ski laufen zu können, und zwar richtig. Zusammen mit einer Freundin aus dem Gymnasium in Ísafjörður hatte sie einen Skiurlaub in Italien gebucht, und dabei ging es um Leistungssport. Ihre Freundin hatte früher zu den besten isländischen Skiläuferinnen gezählt und an zahlreichen Rennen in Europa teilgenommen. Nachdem sie den Wettkampfsport an den Nagel gehängt hatte, fuhr sie immer noch einmal im Jahr mit Dóra zum Skiurlaub ins Ausland, und dann ging es richtig zur Sache. Da ließ man sich mit einigen anderen Abenteurern per Hubschrauber zu Tiefschneeabfahrten jenseits der präparierten Pisten bringen und Ähnliches in dem Stil, und dazu brauchte man sämtliche Muskeln.
    Um diese Zeit waren nur noch ganz wenige im Fitness-Studio. Alle Geräte waren frei, und sie arbeitete das Programm rasch durch. Ihr kleiner iPod versorgte sie über Kopfhörer mit rhythmischer Musik, und sie vergaß alles um sich herum. Als sie zum Schluss ihre Dehnübungen machte, sah sie einen Mann in einer schwarzen Lederjacke beim Empfang stehen. Er starrte sie an. Da sie ein wenig kurzsichtig war, musste sie die Augen zusammenkneifen, um ihn zu erkennen. Es war Tómas, der Rechtsanwalt. Als er sah, dass sie ihn bemerkt hatte, drehte er sich um und ging hinaus.
    In der Umkleidekabine war niemand außer einer durchtrainiert aussehenden Frau, die in Unterwäsche vor dem Spiegel stand und sich die Haare föhnte. Dóra

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