Bevor der Morgen graut
achte Frage war noch nicht eingetroffen, und deswegen ist die Schonzeit verstrichen. Das hast du jetzt auszubaden«, erklärte Jóhann grinsend. »Zuerst muss ich dir aber noch von unserem Shotgun -Duell erzählen. Leifur und ich besaßen beide die gleichen Gewehre, Dreischuss-Pumpguns. Das sollten die Waffen in diesem Spiel sein, und alle Patronen waren genau gleich, ganz normale Patronen für die Gänsejagd. Es war nichts Ungewöhnliches, einige Schachteln davon zu kaufen. Falls wir größere Schrote gewählt hätten, hätte sich womöglich jemand Gedanken darüber gemacht, was wir damit jagen wollten. Wir wählten die Lava in Dimmuborgir am Mývatn als Austragungsort, und das Duell sollte im Stockfinsteren mitten in der Nacht ausgetragen werden.«
Jóhann machte eine kleine Pause und zwinkerte ein paar Mal mit dem heilen Auge. Dann hob er die Augenklappe von der leeren Augenhöhle und lehnte sich seitwärts. Birkir sah eine durchsichtige Flüssigkeit aus der Höhle herausfließen. Gleichzeitig hob Jóhann drohend das Gewehr, aber das war überflüssig, denn Birkir saß wie gelähmt da. Dann richtete Jóhann sich auf, legte die Augenklappe wieder an und fuhr mit einem strahlendenLächeln in seiner Erzählung fort, als sei nichts vorgefallen. »Wir setzten den Tag fest, und zwar auf den 29. September oder genauer gesagt auf die Nacht zum 30. Oktober. Wir losten aus, wer von uns von Akureyri wegziehen sollte, damit wir in den letzten Wochen vor dem Kampf weit voneinander entfernt wären, auf diese Weise würde die Selbstmord-Story überzeugender sein. Ich verlor dabei und ging Anfang September nach Reykjavík. Ich gab vor, mir eine gute Arbeit suchen zu wollen, aber stattdessen trainierte ich natürlich die ganze Zeit mit der Flinte. Ich hatte zwar keine Probleme damit, Tontauben und Vögel zu treffen, aber ich wusste, das hier würde eine ganz andere Dimension haben. In der Lava rings um Reykjavík gab es jede Menge geeignete Stellen dafür. Nachts bin ich los und habe Ziele aufgestellt und mich darin geübt, im Dunkeln zu schießen. Ich bin durch die Lava gerannt und geklettert und habe im Laufen geschossen, außerdem habe ich mir ein ganz dunkles Camo-Outfit bestellt, die gibt’s in Amerika.«
Jóhann stand auf und zeigte Birkir kindlich stolz seine Hose. »Die hier sieht man nicht im Dunkeln. Nur Mist, dass der Anorak hinüber ist«, erklärte er. »In der Nacht zum 29. September fuhr ich wie geplant in den Norden. Ich besaß einen ganz guten großen Jeep und habe die Hochlandpiste über den Sprengisandur genommen. Bis dahin hatte es kaum geschneit, und deswegen war die Piste noch ganz gut befahrbar. Unterwegs waren zwar an einigen Stellen Schneewehen, aber durch die habe ich mich wie nichts durchgepflügt. Die Piste selbst war allerdings so hart gefroren, dass ich nicht besonders rasch vorwärts kam.«
Jóhann legte den Zeigefinger auf den Tisch und ließ ihn über die Tischplatte gleiten. Dann schaute er Birkir an, als würde er eine Frage erwarten. Als Birkir keine Anstalten dazu machte, fuhr Jóhann nach einer Weile fort: »Gegen Morgen habe ich bei einer Schutzhütte gehalten und mich für ein paar Stundenhingelegt. Als ich aufwachte, bin ich weitergefahren und kam in der Gegend von Bárðardalur wieder in bewohntes Gebiet. Von da aus bin ich direkt zum Mývatn. In Reykjahlíð habe ich getankt und etwas gegessen. Dann fuhr ich zum Dettifoss, und zwar auf der normalen Strecke östlich vom Fluss. Auf dem Parkplatz beim Wasserfall haben Leifur und ich uns pünktlich zur verabredeten Zeit abends um sechs getroffen. Wir waren natürlich ganz allein dort, denn zu dieser Jahreszeit gibt’s da keine Touristen mehr. Wir wollten ja auch ungestört sein. Wir sind noch einmal ganz genau den Plan durchgegangen und waren uns in allem einig. Meinen Jeep haben wir dort stehen lassen und sind in Leifurs Auto zum Mývatn gefahren. Auf dem Weg dorthin sind wir aber noch ein Stück auf der Piste auf der westlichen Seite des Flusses hochgefahren und haben dort ein Loch gegraben, das groß und tief genug für eine Leiche war. Einer von uns sollte nach beendetem Kampf dort ruhen, und es war schon ein ganz komisches Gefühl, da an einem Grab zu stehen. Leifur hatte alles Notwendige dabei, große Plastiktüten, Klebeband und die Schaufel, damit derjenige, der überlebte, diese Beerdigung problemlos bewerkstelligen konnte.«
Hier legte Jóhann eine längere Pause ein und starrte ausdruckslos vor sich hin. Endlich schien er
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