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Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
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wieder zu sich zu kommen und fragte: »Wo war ich stehen geblieben?«
    »Ihr habt das Grab ausgehoben«, antwortete Birkir
    »Ja, genau«, sagte Jóhann, »und anschließend fuhren wir zum Mývatn. Als wir bei den Dimmuborgir ankamen, war es bereits dunkel. Zuerst haben wir ausgiebig gepicknickt. Wir waren beide bester Laune und fieberten vor Spannung, der Adrenalinspiegel war schon ziemlich hochgegangen. Wir hatten auch beide schon einen Abschiedsbrief verfasst. Derjenige von uns, der überlebte, musste die Leiche des anderen zu diesem Loch bringen, sie vergraben und anschließend zum Parkplatz am Dettifoss fahren. Dort sollte dann der Wagen des Toten stehenbleiben mit dem Abschiedsbrief auf dem Beifahrersitz. Alles war darauf angelegt, dass es so aussah, als sei der Besitzer des Wagens in den Wasserfall gesprungen. So was ist ja schon vorgekommen, und die Leichen findet man nur selten. Der Plan war absolut hieb- und stichfest.«
    »Wäre es nicht auch gegangen, die Leiche einfach in den Wasserfall zu werfen?«, fragte Birkir.
    »Es war nicht völlig auszuschließen, dass sie gefunden werden könnte. Schusswunden wären verdächtig gewesen«, antwortete Jóhann und sah Birkir an, als warte er auf eine Anerkennung, aber Birkir erwiderte den Blick, ohne eine Miene zu verziehen. Er wollte keine Reaktion zeigen, doch als das Schweigen unangenehm wurde, nickte er endlich zustimmend, und daraufhin fuhr Jóhann fort: »Dann haben wir noch bis zwei Uhr nachts gewartet. Die Dimmuborgir sind zwar weit entfernt von irgendwelchen Bauernhöfen, aber wir wollten ganz sichergehen, dass niemand uns in die Quere kam. Ich hatte mein neues Camo-Outfit an, während Leifur in seinem alten Overall steckte, der viel heller ist. Ich hatte also von vornherein einen Vorteil. Wir haben uns gegenseitig mit den Tarnfarben angemalt, sogar die Lippen. Dann waren wir bereit und marschierten los. Wenn man vom Parkplatz losgeht, beschreibt der Fußweg einen Kreis durch Dimmuborgir, eigentlich sogar mehrere, und gleich hinter dem Eingang teilt sich der Weg. Bist du schon mal dort gewesen?«
    »Nein«, log Birkir.
    »Das ist ein riesiges Gebiet mit unglaublich bizarren Felsen und Lavaformationen voller Spalten und Löcher, und außerdem wächst dort überall Birkengebüsch. Für unsere Zwecke fantastisch geeignet, ein richtiges Labyrinth. Das Spiel bestand darin, einem bestimmten Kreis zu folgen, und zwar gingen wir in entgegengesetzter Richtung los. Irgendwo mussten wir uns dann begegnen, weil der Pfad ziemlich schmal ist, auf keinenFall konnten wir uns verpassen. Zu den Spielregeln gehörte auch, dass wir alle Wegmarkierungen berühren mussten, entweder mit der Flinte oder mit dem Fuß. Sie sind im Abstand von ein paar Metern aufgestellt, und das sollte garantieren, dass wir früher oder später auf Schussweite aneinander herankamen.«
    »Wäre es nicht einfach gewesen, dabei zu mogeln?«, warf Birkir ein.
    Jóhann schüttelte den Kopf. »Das kam für mich nicht infrage«, sagte er, »das hätte für mich das ganze Spiel kaputtgemacht. Denk daran, es ging nicht nur um einen Wettkampf mit Hjördís als Siegerpreis. Dieser Zweikampf als solcher war einfach das Grandioseste, was wir je erlebt hatten. Deswegen musste er total fair ausgetragen werden.«
    »Ich verstehe«, sagte Birkir, klang aber nicht sehr überzeugt.
    »Jetzt war also die Abschiedsstunde gekommen«, fuhr Jóhann fort. »Wir losten aus, wer in welche Richtung gehen sollte, und ich musste zuerst nach Norden und Leifur nach Süden. Das waren unsere allerletzten Minuten zusammen, und die waren sehr emotional aufgeladen. Wir umarmten und küssten uns zum Abschied und wünschten uns gegenseitig alles Gute. Wahrscheinlich wird es dir sehr merkwürdig vorkommen, wenn ich dir sage, dass ich Leifur nie lieber gemocht habe als in diesem Augenblick. Wir spürten, dass uns die großartigste Nacht unseres Lebens bevorstand. Das hier war das Spiel, nach dem wir immer gesucht hatten, ein Kampf auf Leben und Tod gegen einen würdigen Gegner. Als wir uns trennten, gingen wir zunächst rückwärts, und das Letzte, was ich von Leifur sah, war, dass er lächelte und winkte, und dann rannte er los.«
    Jóhann stand auf und begab sich, ohne den Blick von Birkir abzuwenden, in den dunklen Teil des Aufenthaltsraums und kam mit zwei Cola-Dosen zurück. Er setzte sich wieder, öffnete die eine Dose und schob Birkir die andere hin. »Der Himmel war bedeckt, und es war stockfinster in den Dimmuborgir.Wir hatten

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