Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
Vom Netzwerk:
dass sich der Kampf nicht in die Länge ziehen durfte. Mein linkes Auge war wie betäubt, und damit sah ich alles wie durch einen Nebel. Ich blutete auch an der Stirn, und wenn ich nicht aufpasste, konnte mir das Blut ins andere Auge laufen. Das schoss mir zwar in diesem Augenblick durch den Kopf, zu langem Überlegen war aber keine Zeit, deswegen kroch ich schnell ein paar Meter zurück und richtete mich auf. Hinter mir war ein kohlschwarzer Lavafelsen, sodass ich in dieser Stockfinsternis wahrscheinlich völlig unsichtbar war. Dann rannte ich mit angelegtem Gewehr direkt auf Leifur zu, und als ich die halbe Strecke hinter mir hatte, feuerte ich zwei Schüsse ab und warf mich seitwärts auf den Boden.« Jóhann senkte die Stimme. »Ich hörte einen halb unterdrückten Schrei, und dann herrschte wieder Totenstille. Ich lag bewegungslos da, das Gesicht auf die Erde gepresst, und wartete auf die nächste Salve, aber nichts geschah. Ich war mir sicher, dass Leifur mich geortet hatte, und war auf die nächsten Schüsse gefasst. Ich lud vorsichtig nach und wartete noch zehn Minuten. Dann setzte ich mich in Bewegung und robbte mich vorwärts, Zentimeter für Zentimeter, ständig mit dem Gewehr im Anschlag, bis ich den Lavafelsen erreichte, hinter dem er sich vermutlich versteckt hatte. Ich kroch bis zum Ende des Felsens und spähte vorsichtig um die Ecke. Niemandwar zu sehen, aber irgendwas schien da im Heidekraut zu liegen. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es Leifurs Gewehr war. Ich knipste die Taschenlampe an und sah, dass bei der Flinte zwei abgeschossene Finger lagen. Mit einfach unglaublichem Glück hatte ich das Schloss seines Gewehrs getroffen und nicht nur den Abzugbügel zerstört, sondern ihm auch Daumen und Zeigefinger weggeschossen.«
    Um zu verdeutlichen, was passiert war, zeigte Jóhann mit der linken Hand auf die Finger der rechten, die am Abzug seiner Flinte lagen. »Vermutlich hat Leifur das Gewehr oben auf dem Lavafelsen in Anschlag gebracht und war mit dem Kopf in Deckung, als der Schuss ihn traf. Weil das Gewehr jetzt kaputt war, hatte er die Flucht ergriffen. Ich leuchtete die nähere Umgebung mit der Taschenlampe ab und fand gleich, was ich suchte, eine Blutlache und eine Blutspur, die ins Dunkle führte. Es war ganz einfach, der Spur zu folgen, und das tat ich, ohne zu zögern, nachdem ich mein Gewehr wieder geladen hatte. Ich ging ziemlich schnell und starrte mit dem heilen Auge auf den Lichtkegel am Boden. In etwa hundert Metern Entfernung lauerte Leifur mir auf. Wegen der Taschenlampe konnte er mich natürlich sehen, aber das war mir egal. Er hatte zwar keine Waffe mehr, aber unverletzte Beine, und die setzte er ein. Urplötzlich bekam ich einen heftigen Tritt in die Rippen, sodass ich nach hinten taumelte. Dabei löste sich ein Schuss, der in jede Richtung hätte gehen können, aber da hatte ich zum zweiten Mal in dieser Nacht unglaubliches Glück und Leifur unheimliches Pech. Der Schuss traf ihn direkt in die Leiste, als er sich auf mich werfen wollte, durch das Loch konnte man den Himmel sehen. Er brach zusammen, und ich stand auf und ging zwei Schritte auf ihn zu. Der Kampf war vorüber, das wussten wir beide. Am schlimmsten war, was er noch zu mir sagte. Nur zwei Worte, aber die wollte ich nicht hören.«
    Ein langes Schweigen entstand, bis Birkir fragte: »Was hat er gesagt?«
    Jóhann antwortete leise: »Er sagte: Nicht schießen.«
    »Und was hast du gemacht?«
    »Natürlich habe ihn in den Kopf geschossen.«
    Wieder langes Schweigen. Endlich fuhr Jóhann fort: »Danach habe ich mich ins Moos gesetzt und erst mal zwanzig Minuten einfach nur da gesessen, ohne mich zu rühren. Mein Atem ging so heftig, als hätte ich einen Wahnsinnssprint hinter mir. Mir taten die Rippen weh von dem Tritt, und mein Gesicht fühlte sich betäubt an, eigentlich wie abgestorben. Endlich rappelte ich mich wieder hoch. Ich musste da ja alle Spuren des Kampfes vernichten. Leifurs Gewehr habe ich in eine tiefe Lavaspalte geworfen. Dann hielt ich Ausschau nach seiner Taschenlampe, die ich mit dem ersten Schuss zertrümmert hatte. Das war Enttäuschung Nummer zwei in dieser Nacht. Er hatte einen Kasten um die Lampe gebastelt, und diese Vorrichtung hatte er schon vor dieser Nacht dort angebracht. In diesem Kasten war ein Stöckchen an einer Metallfeder, die den Kontakt der Taschenlampe schaltete. An diesem Stöckchen war ein langer Faden befestigt, mit dem Leifur die Taschenlampe aus zwanzig Metern

Weitere Kostenlose Bücher