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Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
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Bewegung gesetzt und bis ganz nach oben geschickt.«
    Jóhann ging zum Fenster und starrte hinaus. Anschließend ging er quer durch die Hütte und holte eine Schrotflinte aus der Ecke, die er vor Birkir auf den Tisch legte.
    »Das ist das Gewehr von Ólafur, es ist jetzt deine Waffe. Versuch nicht, mir weismachen zu wollen, du könntest nicht mit einer solchen Waffe umgehen. Die Patronen kriegst du gleich. Jetzt steh auf und zieh dir deinen Anorak an.«

04:40
    D er Mond schien, und es war sternenklar, als Jóhann und Birkir hinaustraten, jeder mit einem Gewehr in der Hand. Der schwache Schein von Nordlichtern zuckte über den östlichen Himmel, und das eisüberzogene Gestein am Hang glänzte im Mondlicht.
    Birkir fand das Gewehr unglaublich schwer, oder war er so kraftlos? Er überlegte einen Augenblick, ob er die Flinte auf Jóhann schleudern und losrennen sollte. Nein, das konnte ihm hier keine Rettung bringen. Er würde nicht schnell genug außer Reichweite sein, und Jóhann würde ihm in den Rücken schießen. Es blieb keine andere Möglichkeit, als noch etwas länger an diesem Spiel teilzunehmen.
    Sie gingen ein Stück die Straße entlang und kletterten dann seitwärts in die Lava. Birkir ging vorneweg, Jóhann hielt sich ein paar Meter hinter ihm und bestimmte die Marschroute, indem er Birkir kurze Befehle zurief: »Weiter, jetzt nach rechts!« Auf diese Weise kraxelten sie ein paar hundert Meter durch das Lavafeld, bis Jóhann Birkir den Befehl gab, stehen zu bleiben.
    Er zählte einige Patronen aus seinem Munitionsgürtel ab und legte sie auf einen flachen Lavabrocken. »Jetzt beginnt das Spiel«, erklärte er. »Dein Gewehr ist ein Fünflader, und hier sind die sechs Patronen, die dir zur Verfügung stehen. Wir haben also die gleiche Ausgangsposition, bis deine Schüsse verbraucht sind. Deswegen solltest du sparsam damit umgehen. Ich selber hab zwar genug Patronen, aber ich weiß, ich brauche nur zwei. Eine, um dich zu stoppen, und die andere, um das Spiel zu beenden. Es hat keinen Sinn, in irgendeine Lavaspalte zu kriechen und sich zu verstecken. In zwei Stunden ist es taghell, und dann finde ich dich und bringe dich um. Dann ist Hjördís wahrscheinlich auch bereits erfroren. Deine und ihre einzige Hoffnung ist, das Spiel mitzuspielen und zu siegen,was aber sehr unwahrscheinlich ist. Ich weiß, dass du Langläufer bist, aber versuch ja nicht zu fliehen. Die Schuhe, die du anhast, taugen sowieso nichts in diesem Terrain, und ich bin ganz bestimmt reaktionsschneller als du. Lass es nicht darauf ankommen. Du bekommst diese Chance, also nutz sie. Dreh dich jetzt um und zähl bis hundert, und dann darfst du das Gewehr laden. Danach beginnt das Spiel. Alles kapiert?«
    »Ja«, erklärte Birkir und nickte.
    »Und du bist bereit für das Game ?«
    »Ja, ich bin bereit.«
    Jóhann lächelte anerkennend.
    »Dann sei mir gegrüßt, Gegner. Möge der Bessere heute Nacht gewinnen. Jetzt dreh dich um und fang an zu zählen.«
    Birkir drehte sich um und blickte nach unten. Er zählte ganz ruhig: »Eins, zwei drei …« Dabei konzentrierte er sich darauf, wie er reagieren sollte, wenn er zu Ende gezählt hatte. »… siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, hundert.«
    Birkir drehte sich wieder um und sah, das er ganz allein war. Er ging ruhig zu den Patronen und hob sie auf. Er öffnete den Lauf, lud das Gewehr mit drei Patronen und brachte es senkrecht in Anschlag. Noch einmal ging er im Geiste seine Lage durch und gab dann einen Schuss in die Luft ab. Er zählte »Eins, zwei, drei vier« und drückte wieder ab. Noch einmal zählte er und feuerte in die Luft. Es entstand eine Pause, während er das Gewehr mit den restlichen drei Schüssen lud, die er auf die gleiche Weise verfeuerte.

05:10
    B irkir stand immer noch bewegungslos an der Stelle, wo Jóhann die Patronen hingelegt hatte. Er atmete tief durch und wartete, was passieren würde. Der Lauf der Flinte ruhte auf seiner Schulter, und mit der rechten Hand hielt er den Schaft gepackt, der Zeigefinger berührte den Abzug. Birkir blickte zum klaren, wolkenlosen Himmel hoch und sah die Sterne. Irgendwann einmal hatte er die Namen der Sternzeichen gekannt und sie am Himmel finden können, aber jetzt schien alles ein wirres Durcheinander zu sein, unterschiedlich helle Punkte am Firmament, die jeder für sich eine Sonne in einem anderen System waren. Und dazu diese Unendlichkeit, die niemand begreifen konnte. Diese Dimensionen, die noch niemand ergründet hatte.

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