Bevor der Morgen graut
Entfernung ein- und ausschalten konnte. Ich sollte natürlich glauben, dass er die Lampe in der Hand hatte, und in dem Augenblick, wo ich auf diesen Apparat zielte und abfeuerte, wusste er genau, wo ich war. Das war ein ganz klarer Verstoß gegen die Spielregeln. Es war nicht gestattet, andere Hilfsmittel zu benutzen als die vorher festgelegten, die für beide gleich waren. Leifur, mein bester Freund, hatte versucht, mich zu hintergehen, und das in der erhabensten Stunde unserer Freundschaft.«
Jóhann schüttelte den Kopf, und Birkir kam es so vor, als kämpfe er mit den Tränen.
»Den Kasten und die Taschenlampe habe ich in dieselbetiefe Spalte geworfen wie das Gewehr. Jetzt musste ich Leifur wegschaffen. Ich konnte ihn mir zwar über die Schulter werfen, aber ich musste ja auch noch das Gewehr tragen und mit der Taschenlampe leuchten. Das war unheimlich anstrengend. Es blutete zwar nicht mehr im Gesicht, aber nach diesem Kampf war ich total am Ende. Schritt für Schritt schleppte ich mich vorwärts. Als ich endlich in die Nähe des Parkplatzes gekommen war, legte ich meine Last neben dem Pfad nieder, holte die Plastiktüten aus dem Auto und packte Leifur darin ein, bevor ich ihn ins Auto verfrachtete. Zu meinem Glück hatte Leifur eine ganze Rolle mit solchen schwarzen Tüten mitgenommen, deswegen konnte ich die Sitze im Auto und den Boden damit auslegen, auch überall dort, wo die Gefahr bestand, dass meine eigenen blutbeschmierten Sachen mit etwas in Berührung kamen. Bevor ich losfuhr, zog ich mir die Handschuhe an, die ich in der Tasche hatte. Ich habe extra darauf geachtet, das Steuerrad nur an einer Stelle zu berühren, um Leifurs Fingerabdrücke nicht abzuwischen. Zuerst fuhr ich zu dem Loch, das wir an der westlichen Dettifoss-Strecke gegraben hatten, und warf die Leiche hinein. Ich hab nicht lange gebraucht, um es wieder zuzuschaufeln und die Spuren an der Oberfläche zu glätten. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie es mich umgehauen hat, als ich hörte, dass irgendein Typ genau an der Stelle gebaggert hat. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist so unendlich gering.«
Jóhann schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. »Dann bin ich wieder zurück auf die Ringstraße und hoch zum Dettifoss auf der östlichen Seite, wo ich das Auto abstellte. Das ganze Plastikzeug habe ich in meinem eigenen Auto verstaut, auch das, was noch von dem Proviant übrig war, und alles, was einen Hinweis auf unseren Kampf geben konnte. Da stand zum Schluss nur noch Leifurs Auto, der Schüssel steckte, und der Abschiedsbrief lag auf dem Beifahrersitz.«
Jóhann schwieg nun wieder eine Weile. Es hatte den Anschein, als müsse er überlegen, wie es weitergegangen war. »Als ich das alles hinter mich gebracht hatte, war es schon sieben Uhr morgens und beinahe ganz hell. Mir war klar, dass ich wegen der Verletzungen im Gesicht zum Arzt musste, aber das durfte ich auf keinen Fall da oben im Norden tun. Die Möglichkeit, dass der Überlebende verletzt sein könnte, hatten wir nämlich nicht einkalkuliert. Also beschloss ich, dieselbe Strecke zurückzufahren und in Südisland zur Ambulanz zu gehen. Unterwegs dachte ich mir die Geschichte mit dem Fehlschuss eines Unbekannten aus. Als ich nach der Hochlandüberquerung wieder in die bewohnten Gebiete im Süden kam, hielt ich beim ersten besten Müllcontainer an der Straße und entsorgte meinen Anorak und das andere Zeug. Der Anorak war über und über mit Blut beschmiert und nicht mehr zu gebrauchen. Anschließend fuhr ich zum Krankenhaus in Selfoss. Der Arzt entfernte all die Schrotkörner aus der Haut, aber er verständigte auch die Polizei. Ich machte an Ort und Stelle eine Aussage, und anschließend brachten sie mich wegen des Auges im Krankenwagen nach Reykjavík. Den Rest der Geschichte kennst du.«
Birkir nickte. Jóhann fuhr fort: »Ich war im Krankenhaus, wo sie versuchten, mein Auge zu retten, als sie in Nordisland nach Leifur suchten, und deswegen blieb es mir erspart, irgendwas schauspielern zu müssen. Die haben wer weiß wie lange gebraucht, um sein Auto zu finden, erst als ein verspäteter Tourist am Dettifoss darauf stieß, war die Sache ausgestanden. Die Polizei in Akureyri rief bei mir an, um mich zu fragen, ob Leifur depressive Anwandlungen oder so was gehabt hätte. Ich sagte wahrheitsgemäß, dass ich nach Reykjavík gezogen sei und vor seinem Verschwinden einige Wochen lang nichts von ihm gehört hätte und dass ich ihnen leider nicht helfen
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