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Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
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könnte. Der Totenschein für ihn wurde ausgestellt, obwohl man seineLeiche nicht gefunden hatte, und in Akureyri fand eine Gedenkfeier statt. Ich fuhr hin, um Hjördís zu treffen. Ich sah im Geiste schon vor mir, wie wir einander trösteten und wie sich unsere Verbindung jetzt ganz anders gestalten würde. Hjördís tauchte aber gar nicht bei der Gedenkfeier auf, und mir wurde gesagt, sie sei in New York, um dort Grafikdesign zu studieren. Ich konnte es kaum glauben. Hjördís hatte zwar über ihr Studium gesprochen und einige Ausbildungsstätten angeschrieben, aber sie tat sich mit Entscheidungen immer so schwer. Und dann musste sie ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählen, wo ich sie am meisten brauchte.«
    Erregt sprang Jóhann hoch und lief hektisch auf und ab. Dann setzte er sich wieder. »Mir blieb also nichts anderes übrig, als ebenfalls nach New York zu fliegen«, fuhr er fort. »Ich habe ein paar Mal mit ihr telefoniert, und wir haben uns E-Mails geschrieben. Größtenteils ging es um Leifur, und wir versuchten, einen Grund für seinen Selbstmord zu finden. Ich war dafür, dass wir gemeinsam einen Nachruf verfassten, aber es blieb bei einem Entwurf. Und dann kündigte ich ihr an, dass ich sie besuchen würde. Ich hatte meinen Jeep verkauft und deswegen genug Kohle, um ein paar Wochen im Ausland zu verbringen. Ich wollte auch versuchen, mir dort irgendeine Arbeit unter der Hand zu besorgen. Ich setzte mich also in den Flieger und kam spät abends bei Hjördís in Manhattan an. Sie wohnte dort mit zwei anderen Isländerinnen in einem winzigen Appartement, und für Gäste war dort überhaupt kein Platz. Es gab bloß eine kleine Küche und einen großen Wohnraum, in dem alle schliefen. In der ersten Nacht durfte ich zwar bei ihnen auf dem Fußboden schlafen, aber dann musste ich mir ein billiges Hotelzimmer suchen. Zuerst hat Hjördís mich mit offenen Armen aufgenommen, wie eh und je, und wir trafen uns in der ersten Woche jeden Tag. Sie zeigte mir die Stadt, und wir gingen zusammen in Museen und so was.Als ich aber anfing, darüber zu reden, ob wir uns nicht gemeinsam eine Wohnung mieten sollten, und dass ich mir eine Arbeit suchen würde, lachte sie nur so komisch, als würde ich Witze machen. Nirgendwo waren wir wirklich unter uns, und ich hatte nie eine Chance, mich ihr richtig zu nähern. Manchmal habe ich sie in den Arm genommen, oder wir gingen Händchen haltend durch die Straßen, aber das war alles genau wie früher, als Leifur noch lebte. Ich kam nie dazu, den entscheidenden Schritt zu tun. Und dann konnte sie mich auf einmal wegen des Studiums nicht mehr jeden Tag treffen. Ich kannte natürlich niemanden in New York und habe die ganze Zeit immer nur auf die nächste Verabredung gewartet, aber wenn ich mit ihr telefonierte, tat ich trotzdem so, als würde ich andere Leute treffen und hätte jede Menge zu tun. Eines Tages, als ich anrief, sagte sie zu mir, ich solle vorbeikommen, und als ich kam, war sie zu meiner Überraschung ganz allein zu Haus. Da bildete ich mir natürlich ein, dass jetzt der große Moment gekommen war. Und da erklärte sie mir, sie müsse mir etwas sagen, nämlich dass sie lesbisch sei und jetzt eine Freundin hätte.«
    Jóhann schien Schwierigkeiten mit der Fortsetzung zu haben. Als er wieder begann, zitterte seine Stimme leicht: »In dem Moment hatte ich das Gefühl, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich stammelte nur, sie wäre ganz bestimmt nicht lesbisch und wir wären doch so ein ideales Paar. Als ich versuchte, sie in die Arme zu nehmen, schob sie mich wie angewidert von sich weg. Als ich ihr sagte, dass Leifur ihretwegen gestorben war, fragte sie: ›Wieso meinetwegen?‹, aber das konnte und wollte ich natürlich nicht näher erklären. Und dann erschien diese so genannte Freundin, und zu allem Überfluss war sie pechschwarz, und Hjördís erklärte mir, ich müsse jetzt gehen. Danach haben wir uns in New York nicht mehr getroffen.«
    Jóhann schüttelte den Kopf und ballte die Hände zu Fäusten. »Das hat mich verdammt fertig gemacht. Wegen dieser Frau hatte ich meinen besten Freund umgebracht und selber ein Auge verloren. Das Leben war total sinnlos geworden.«

02:20
    J óhann verstummte und brütete unendlich lange still vor sich hin. Birkir saß ebenfalls völlig reglos da. Er hatte beschlossen, dem Gegner in der augenblicklichen Situation die Inititiative zu überlassen. Auf diese Weise verstrichen mindestens zwanzig Minuten, bis

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