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Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
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Anfangs lebten sie alle zusammen in einem großen Haus und versuchten, Isländisch zu lernen, aber dann zerstreuten sich die Flüchtlinge. Lis Familie zog in eine kleine Wohnung in einem Hochhaus in Kópavogur, wo die Eltern mit fünf Kindern in drei Zimmern untergebracht waren. Li hatte es in den ersten Monaten nicht geschafft, Isländisch zu lernen, deswegen wurde erst gar nicht versucht, ihn in die Schule zu schicken. Das änderte sich aber, als er einen alten Mann kennen lernte, der im selben Haus lebte. Er hieß Hinrik, und seine Frau wurde Rúna genannt. Jeden Morgen fuhr der alte Mann mit seinem Jeep nach Vatnsleysuströnd zu seinem Schafstall, in dem er ein paar Tiere hielt. Li durfte ihn begleiten, und auf diese Weise fing er an, Isländisch zu lernen.
    Lis vietnamesischer Pflegevater beobachtete eine Zeit lang vom Ufer aus den Seegang an Islands Küsten und kam zu dem Schluss, dass es wohl kaum ratsam war, auf einem selbstgebauten Boot nach Amerika zu segeln, deswegen verwarf er diesen Plan wieder. Er nahm aber Verbindung zu seinen Verwandten in Minnesota auf, und es wurde beschlossen, dass die Familie mit den neuen isländischen Pässen, die ihnen ausgehändigt worden waren, der Verwandtschaft in Amerika einen Besuch abstattete. Li durfte bei seinem Freund Hinrik und bei Rúna bleiben. Der Besuch war für zwei Wochen geplant, aber seine Pflegeeltern kehrten nie von dieser Amerikareise zurück.
    Li blieb daher bei den alten Leuten, und sein Isländisch machte große Fortschritte. Hinrik brachte ihm die Sprache bei, und zwar mit der einzigen Methode, die er kannte: Er ließ den kleinen Li Gedichte der klassischen isländischen Dichter auswendig lernen. Hinrik selber hatte die meisten Gedichte von EinarBenediktsson, vieles von Jónas Hallgrímsson und von zahlreichen anderen Dichtern im Kopf. Während sie mit dem Jeep unterwegs waren, im Schafstall oder daheim in der Küche arbeiteten, sagte Hinrik ihm die ganze Zeit Gedichtstrophen vor, die Li nachsprechen musste, was dem Jungen Spaß machte. Nachdem er Lesen gelernt hatte, begann er selber Gedichte zu lesen. Viel später fand er heraus, dass er ein Gedicht nur ein einziges Mal hören oder lesen musste, um es zu behalten. Das Gleiche galt für Liedtexte, gleichgültig, wie albern sie waren.
    Im folgenden Herbst wurde Li eingeschult, und zu dem Zeitpunkt sprach er bereits ausgezeichnet Isländisch, allerdings war seine Ausdrucksweise ein wenig altertümlich. Obwohl er bereits zehn Jahre alt war, wurde er in die Klasse mit den Achtjährigen gesteckt. Das war keineswegs Absicht, sondern es lag daran, dass niemand wusste, wie alt er war. Von der Größe her passte er zu den Achtjährigen, und es war letzten Endes auch gut so, schließlich hatte er ja noch nie eine Schule besucht. Im Volksregister wurde eingetragen, dass er 1972 geboren wurde, genauer gesagt am 10. Januar, dem Tag, an dem er nach Island kam. Er durfte sich selbst einen isländischen Namen auswählen, Birkir. Weil niemand wusste, wie sein Vater geheißen hatte, musste Hinrik für die Vaterbezeichnung herhalten. Der Junge lebte bis 1992 bei den beiden Alten, offiziell war er damals zwanzig. Im Herbst dieses Jahres starb Rúna, Hinrik ließ seine Schafe schlachten und ging ins Altersheim. Zwei Jahre darauf starb er.
    Birkir Li konnte sich nur schwach an seinen Aufenthalt in Malaysia erinnern. Die Tage waren alle gleich gewesen, und kaum jemand hatte sich um ihn gekümmert. Von seinen ersten Lebensjahren in Vietnam war ihm nichts im Gedächtnis. Höchstens, wenn er den Geruch von brennendem Benzin wahrnahm, stiegen aus dem Unterbewusstsein einige bruchstückhafte Erinnerungen hoch. Die Sprache seiner Kindheit hatte er seit fünfundzwanzigJahren nicht gehört, und er hatte keine Ahnung, ob er noch ein einziges Wort verstehen würde, aber er dachte auch selten darüber nach. Er wusste, dass im Großraum Reykjavík zahlreiche Vietnamesen lebten, aber er sah keinen Sinn darin, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Er verspürte nicht die geringste Lust, eine Sprache aufzufrischen, die er irgendwann einmal gesprochen hatte, und zudem war er alles andere als gesellig. Er hatte nichts dagegen, so viel wie möglich allein mit sich selbst zu sein.
    Birkir bestand das Abitur am Gymnasium von Kópavogur und immatrikulierte sich anschließend an der Pädagogischen Hochschule. Zu diesem Zeitpunkt kontaktierte ihn die Polizei, um ihm eine Anstellung auf Probe anzubieten. Grund dafür war, dass es Probleme mit einigen

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