Bevor der Morgen graut
gemütlich. Es gab zwei gleich große Zimmer, Wohnzimmer und Schlafzimmer, außerdem eine längliche Küche und ein kleines Badezimmer mit scheußlich hellgrünen Fliesen und Schränken. Diese Geschmacklosigkeiten hatte er übernommen, als er die Wohnung kaufte, und er war immer noch nicht zum Renovieren gekommen. Vielleicht hatte er sich auch einfach daran gewöhnt. Alle Wände in der Wohnung warenweiß und die Decken graugrün gestrichen, und auf dem Boden lag dunkles Parkett. Abgesehen von einem Glastisch auf stählernen Füßen waren alle Möbel im Wohnzimmer hell gehalten. Etliche große und üppige Zimmerpflanzen ergänzten die künstlerische Farbpalette um diverse Grüntöne. An den Wänden hingen einige Bilder, Ölgemälde, Aquarelle, Grafiken und Fotografien, aber auch einige Reproduktionen. Die Bilder waren sehr unterschiedlich im Stil, wiesen aber alle auf die eine oder andere Weise dasselbe Sujet auf, Personen oder Figuren mit Streichinstrumenten, Geige, Cello, Kontrabass. Ein Bild zeigte einen traurigen Clown mit Geige, ein anderes war ein Schwarzweißfoto von den Streichern eines Orchesters in einem schönen alten Rahmen, und das dritte war ein stilisiertes Ölgemälde in kräftigen Farben, das ein Streichquartett darstellte.
Birkir machte Licht und öffnete den Schrank mit seinen CDs. Er wählte eine, die er selber mit klassischen Adagios zusammengestellt hatte, und legte sie ein. Er stand eine Weile still und lauschte den ersten Klängen des Mittelsatzes aus Cavallaria rusticana von Pietro Mascagni, eine Aufnahme des Pariser Sinfonieorchesters unter der Leitung von Semyon Bychkov. Er stellte die Musik lauter, ging ins Badezimmer, zog sich aus und duschte heiß und lange. Danach trocknete er sich ausgiebig mit einem weißen Handtuch ab und zog einen dunkelblauen Pyjama an.
Birkir Li Hinriksson war ein Einzelgänger, und wahrscheinlich war er es immer schon gewesen. Über seine Kindheit wusste er nicht viel, da er nur ganz wenige Erinnerungen an seine ersten Lebensjahre hatte. Er wurde irgendwann im Herbst 1970 in Vietnam geboren und hieß die ersten Jahre einfach nur Li. Alle Einwohner litten entsetzlich unter den chaotischen Kriegszuständen in diesem Land. Lis Eltern hatten insofern eine Sonderstellung, als sie Geschäftsleute chinesischer Abstammung waren. Sie lebten gegen Ende des Krieges in sehrbeengten Verhältnissen. Die Großfamilie besaß gemeinsam eine alte, morsche Dschunke, und auf dieser Nussschale segelten dreiundzwanzig Angehörige der Familie in der Hoffnung auf ein besseres Leben in einem anderen Land aufs Meer hinaus. Der kleine Li war unter den vielen Tausenden, die damals im Südchinesischen Meer umhertrieben.
Ein Teil dieser Familie hatte mehr Glück als die meisten anderen, denn am vierzigsten Tag wurden sie von einem französischen Frachter auf dem Weg nach Malaysia gefunden und an Bord genommen. Zu dem Zeitpunkt waren allerdings nur noch elf von ihnen am Leben, die anderen waren verhungert, verdurstet oder an Krankheiten gestorben. Lis Erinnerungen reichten nur bis zu dem Punkt zurück, als seine Eltern bereits beide tot und seine Geschwister verschollen waren. Er wurde bei einer großen Familie in Pflege gegeben, die in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Kuala Lumpur lebte. Es war ein armseliges Leben, aber er kannte nichts anderes, und starken Hunger litt er immerhin nur selten.
1978 waren ausländische Gäste in das Zelt seiner Pflegefamilie gekommen. Weiße Menschen, die eine Binde mit einem roten Kreuz trugen und eine seltsame Sprache sprachen. Lis Pflegefamilie wurde die Aufnahme in einem fremden Land angeboten, von dem sie noch nie gehört hatte. Das Familienoberhaupt besah sich die Landkarte, die die Fremden dabeihatten. Er sah, dass es eine Insel war, gar nicht so weit entfernt von dem Land, in das sie immer gewollt hatten, die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dort hatte er Verwandte, und dort wollte er hin. Er akzeptierte deswegen das Angebot, auf diese nördlich gelegene Insel zu gehen, war aber fest entschlossen, sich nach der Ankunft dort ein Boot zu bauen und mit der ganzen Familie nach Amerika zu segeln. Der kleine Li musste auch mit, denn gemäß den Unterlagen des Roten Kreuzes war er als Familienmitglied registriert.
Eine Gruppe von neunundzwanzig Flüchtlingen traf am 10. Januar 1979 mitten im tiefsten Winter in Island ein. Li glaubte, dass er nie wieder die Sonne sehen würde, aber als es anfing zu schneien, kehrte sein Lebensmut zurück.
Weitere Kostenlose Bücher