Bevor der Morgen graut
der Abteilung für Kapitalverbrechen brannten sämtliche Lampen. Birkir spürte, dass eine gewisse Spannung in der Luft lag, wie es eigentlich am ersten Abend einer Mordermittlung immer der Fall war. Alle warteten gespannt darauf, dass das gesamte recherchierte Material zu einem Ganzen zusammengefügt wurde. Würde dabei etwas ans Licht kommen, was sie der Lösung näher brachte, oder käme nichts dabei heraus? Das Team bestand aus sieben Mitarbeitern, und alle bis auf Hauptkommissar Magnús sahen ziemlich müde aus. Er hatte das Haus den ganzen Tag nicht verlassen, sondern sich nur telefonisch auf dem Laufenden gehalten, wie die anderen vorwärts kamen. Vom Schreibtisch aus hatte er die ersten Arbeitsschritte des Teams organisiert und koordiniert,und er hatte sich auch Anfragen seitens der Medien stellen müssen, denn die Nachricht von dem brutalen Verbrechen hatte sich schnell herumgesprochen.
Magnús hatte im August Urlaub gehabt und war immer noch braungebrannt, was gut zu seinem graumelierten Haar und dem kräftigen Schnauzbart passte. Er strahlte meist gute Laune aus, aber jetzt hatten sich Sorgenfalten an der Nasenwurzel gebildet. Magnús fehlten noch zwei Jahre bis zu seinem sechzigsten, aber er war ganz gut in Form. Im Sommer hielt er sich durch Sportangeln fit, im Winter spielte er zwei Mal pro Woche Badminton. Über dem Gürtel zeichnete sich zwar ein kleiner Bauchansatz ab, aber ansonsten hatte er noch eine akzeptable Figur. Gegen fünf war er schwimmen gegangen, um vor dem Abendessen wieder munter zu werden. Zu diesem Zeitpunkt waren die ihm unterstellten Beamten auf dem Weg zurück in die Stadt gewesen. Er war sehr darauf bedacht, sich nicht unnötig zu überarbeiten.
Gunnar machte keinen so fitten Eindruck. Er sah angegriffen aus, seine Kleidung war zerknittert und voller Flecken, und als er aufstand, stellte sich heraus, dass er vergessen hatte, den Knopf am Hosenbund zuzuknöpfen. Ihm fiel die Aufgabe zu, von der Ermittlung am Tatort zu berichten. Er blätterte in seinem Notizbuch und beschrieb, was Birkir und er vor Ort herausgefunden hatten. Gleichzeitig schrieb er mit einem blauen Stift stichwortartig die wichtigsten Punkte auf eine weiße Tafel.
Tatzeit: bei Tagesanbruch, 6 – 6.30 h
Waffe: potente Schrotflinte
Bauer Guðjón meldet den Vorfall um 9.30 h
vorsätzlicher und brutaler Angriff
Täter vermutlich fit und reaktionsschnell
Opfer versuchte, sich zu wehren
Guðjón und Enkel zur Tatzeit zu Hause
hören zahlreiche Schüsse, ca. 30
Guðjón besitzt Schusswaffe, weigert sich, sie zu zeigen.
Birkirs Notizbuch lag aufgeschlagen vor ihm. Er hörte Gunnar aufmerksam zu, und wenn es ihm nötig schien, warf er den einen oder anderen Kommentar ein. Das geschah aber nicht oft. Birkir sah sehr viel gepflegter aus als sein Kollege, seine Kleidung war einwandfrei, und die Hose hatte immer noch korrekte Bügelfalten. Ihm waren auch keine Ermüdungserscheinungen anzumerken, denn er war körperlich in wesentlich besserer Verfassung als Gunnar.
Als Nächstes fasste Anna die Ergebnisse der Spurensicherung zusammen. Die Fotos vom Tatort waren großformatig ausgedruckt worden und hingen an der Wand. Aber entweder war die Farbskala im Computer falsch eingestellt oder der Drucker nicht in Ordnung gewesen, die Bilder hatten jedenfalls alle einen Blaustich. Das Blut war nicht rot, sondern violett. Vielleicht war das sogar besser so, alles wirkte dadurch irgendwie noch unwirklicher.
Anna deutete mit einer brennenden Zigarette auf die einzelnen Fotos und ging auf jedes Detail ein. Ihre Stimme war noch heiserer als gewöhnlich. Ein Aschenbecher war nirgends zu sehen, deswegen schnippte sie die Asche wieder in die Filmhülse, die sie immer dabei hatte. Selbstverständlich war Rauchen im Konferenzraum nicht gestattet, aber Anna hatte eine Sondergenehmigung aufgrund eines schriftlichen ärztlichen Attests, dass ihr während der Arbeit das Rauchen zu gestatten sei, unterzeichnet von einem renommierten Psychiater des Nationalkrankenhauses.
Zum Schluss erklärte Anna: »Wir haben bereits eine vorläufige Analyse der Patronen durchgeführt, die wir am Hang und im Graben gefunden haben, mit dem Ergebnis, dass höchstwahrscheinlich sämtliche Schüsse auf das Opfer aus ein undderselben Waffe abgegeben worden sind. Das bedeutet, dass der Mörder allein am Werke war, mit einer Waffe.«
Símon und Dóra saßen Gunnar und Birkir gegenüber. Sie hatten die Aufgabe gehabt, Informationen über den Toten und sein
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