Bevor der Morgen graut
Umfeld einzuholen, Familie, Freunde, Arbeitsplatz.
Dóra schilderte ihren Besuch bei der Witwe.
»Sie ist etwa in meinem Alter, knapp dreißig. Es war ein bisschen theatralisch«, sagte sie.
» Zu theatralisch?«, fragte Magnús.
»Nein, angesichts der Umstände eigentlich angemessen. Sie hat jedenfalls nichts mit der Sache zu tun, falls du darauf anspielst«, antwortete Dóra und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: »Glaube ich zumindest.«
Diesen Zusatz hatte Birkir erwartet. Dóra war sehr gewissenhaft, aber manchmal etwas unsicher. Das lag daran, dass sie noch nicht viel Erfahrung gesammelt hatte, das würde sich aber mit der Zeit legen. Erst nach ein paar Jahren lernte man, in den Gesichtern von Menschen zu lesen, wenn sie unverhofft der Polizei gegenüberstanden. Manche lernten es allerdings nie, weil sie zu sehr von sich selber eingenommen waren, aber das traf nicht auf Dóra zu.
»Ich war bei der Frau, bis ihre Mutter eintraf«, sagte sie. »Sie fing sich gerade wieder, als ich wegging.«
Dóra hatte rote Haare und Sommersprossen und sah aus wie das blühende Leben. An der linken Schläfe hatte sie eine auffällige waagerechte Narbe, die ihr eigentlich nicht schlecht stand. Sie war von kräftiger Statur, aber keineswegs dick, sondern gut proportioniert.
Dóra war aus der Bereitschaftspolizei zu ihnen versetzt worden, nachdem sie einen Autounfall gehabt hatte. Während der Rehabilitationszeit machte sie eine Art Praktikum bei der Kriminalpolizei. Es stellte sich heraus, dass sie systematisch und sorgfältig arbeitete, Eigenschaften, die bei Ermittlungen sehrvon Vorteil waren. Als dann zwei Mitarbeiter der Abteilung für Kapitalverbrechen in Pension gingen, erhielt sie eine der Planstellen. Die andere wurde mit Símon besetzt, der aus der Abteilung für kriminalpolizeiliche Prävention kam, dort aber wenig zustande gebracht hatte. Es hatte etwas mit seiner mangelnden Kontaktfähigkeit zu tun, und dieses Handicap kam bei der Kriminalpolizei nicht so sehr zum Tragen. Allerdings besuchte er auch einen Lehrgang, um sein Auftreten zu verbessern. Símon war Mitte dreißig und hatte kurz geschnittene schwarze Haare und dunkle Bartstoppeln. Darauf achtete aber niemand, denn seine riesigen Ohren standen so weit ab, dass die Leute gar nichts anderes an ihm sahen.
»Ich war in der Rechtsanwaltskanzlei«, sagte er, »da wusste niemand etwas.«
»Überhaupt nichts?«, fragte Magnús. »Mit wem hast du geredet?«
»Ich habe mit dem Geschäftsführer und der Sekretärin von Ólafur gesprochen. Der Geschäftsführer rief die Angestellten zu einer Besprechung zusammen, um ihnen mitzuteilen, was passiert ist.«
»Und wie haben die Angestellten reagiert?«
»Das weiß ich nicht. Ich musste zu diesem Lehrgang.«
»Lehrgang?«
»Ja, Dale Carnegie. Du hast mir das doch nahe gelegt, weißt du nicht mehr?«
»Konntest du nicht eine Sitzung ausfallen lassen?«
»Nein, das wird nicht gern gesehen. Aber müssen wir uns nicht näher mit diesem Bauern auf Litla-Fell befassen?«, gab Símon zur Antwort und versuchte, auf ein anderes Thema umzuschwenken. »Wir müssen doch wohl das Haus und die Stallungen da auf dem Hof durchsuchen, um dieses Gewehr zu finden, oder nicht? Hätte das nicht eigentlich sofort heute schon geschehen müssen?«
Birkir und Gunnar warfen sich vielsagende Blicke zu.
Magnús überlegte und sagte dann: »Wir haben noch zu wenig an der Hand, um einen Durchsuchungsbefehl zu erwirken. Wir brauchen weiteres Verdachtsmaterial.«
Gunnar sagte: »Meiner Meinung nach sollte der Bezirksamtmann mit dem Kerl reden und ihn dazu bringen, dass er uns freiwillig seine Waffe zeigt. Falls er schuldig ist und das Gewehr von Ólafur gestohlen hat, dürfte er es sicher an einem guten Ort versteckt haben. Um es zu finden, müssen wir womöglich all diese Bruchbuden abreißen.«
»Steht das nicht sowieso an?«, fragte Símon.
Birkir schaute von seinem Notizbuch hoch. »Wer auch immer Ólafur erschossen hat, lässt uns bestimmt nicht das Gewehr unter seinem Bett finden. Hinter dem Mord steckt ein durchdachter Plan«, sagte er.
23:30
B irkirs normale Schlafengehenszeit war längst überschritten, als er in seine kleine Wohnung in der Bergstaðastræti zurückkehrte. Niemand erwartete ihn. Er lebte allein, und zwar seit vielen Jahren. Die Wohnung befand sich im ersten Stock eines seltsamen kleinen Hauses, in dem alles sehr beengt und die Raumaufteilung sehr merkwürdig war, aber die Wohnung hatte hohe Decken und wirkte
Weitere Kostenlose Bücher