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Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
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dieser Finsternis nur im Wege wären und außerdem klatschnass und dreckig werden würden. Sie hatten also beschlossen, nach Hause zu fahren, um etwas Schlaf zubekommen. Der Fall würde sowieso in dieser Nacht nicht zu lösen sein.
    »Gunnar, bist du da?«, erklang es auf Deutsch aus dem Wohnzimmer.
    Er hielt inne und drehte sich um.
    »Guten Abend, Mutter«, entgegnete er ebenfalls auf Deutsch und warf einen Blick durch die Türspalte.
    Eine alte weißhaarige und mollige Frau saß in einem Lehnstuhl und hatte augenscheinlich vor dem Fernseher gedöst. Sie trug einen weißen Hauskittel, und ihre Füße steckten in grauen Wollsocken. Auf dem Tisch vor ihr stand eine leere Bierflasche, und in einem Schnapsgläschen befand sich der kleine Rest eines Magenbitters. Im Aschenbecher lag eine brennende Zigarette.
    Das Wohnzimmer war klein. Das ausgeklappte und als Bett hergerichtete Sofa stand an der Wand, daneben standen zwei alte Sessel. Zwischen diesen Möbeln befand sich der Tisch und unter einem Fenster mit schweren Vorhängen von gelblichbrauner Farbe der Fernseher. Unten an den Vorhängen sah man die Spuren von Feuchtigkeit.
    Die alte Dame hieß Maria Ludwig und gehörte zu den zahlreichen deutschen Frauen, die 1947 nach Island gekommen waren. Sie stammte aus Lübeck und hatte sich im Alter von fünfundzwanzig Jahren auf eine Anzeige hin gemeldet, die deutsche Frauen für Arbeit in der isländischen Landwirtschaft anwarb. Das war ein verlockendes Angebot, denn nach dem Zusammenbruch gab es im Nachkriegsdeutschland kaum Arbeitsmöglichkeiten für Frauen ohne Ausbildung. Maria hatte gegen Ende des Kriegs ihren Verlobten verloren, der als Soldat beim abschließenden Angriff der Alliierten in Norddeutschland den Tod gefunden hatte, nachdem er bis dahin vier Jahre als Soldat gedient und die längste Zeit seiner Wehrpflicht unbeschadet überstanden hatte. Als er fiel, hatte er als Leutnant eine Truppe befehligt, die aus lauter Jugendlichen bestand, undsie hatten eine Brücke in der Nähe von Hamburg zu verteidigen, bis zum letzten Mann.
    Nach ihrer Ankunft in Island landete Maria auf einem Bauernhof bei einem älteren Ehepaar in der Nähe von Hvammstangi im Norden der Insel. Die beiden waren fast genauso arm wie sie selbst und konnten sich deswegen keine isländischen Arbeitskräfte leisten. Sie wurde nicht schlecht behandelt dort, aber sie musste hart anpacken. Sie lernte einigermaßen Isländisch, obwohl in diesem Heim keine überflüssigen Worte gemacht wurden. Dort blieb sie vier Jahre lang, solange die alten Leutchen es noch schafften, den Hof zu bewirtschaften. Ein Nachbar kaufte dann die kleine Kate für wenig Geld und vergrößerte damit seine Ländereien. Danach nahm Maria unterschiedliche Arbeiten an, sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Fischverarbeitung, genau wie andere ungelernte und unverheiratete Frauen in Island. Von ihren Angehörigen in Deutschland lebte keiner mehr, und deswegen hatte sie niemanden, an den sie sich wenden konnte. Als sie die isländische Staatsangehörigkeit beantragte und erhielt, musste sie nach den damaligen Gesetzen ihren Namen entsprechend den isländischen Gepflogenheiten ändern und statt des Nachnamens sich nach ihrem Vater benennen, Antonsdóttir. Sie hatte das Gefühl, dabei ein wenig von sich selbst aufzugeben. 1959 lernte sie einen Seemann aus Siglufjörður kennen, und im Herbst 1960 wurde Gunnar geboren. Als diese Verbindung auseinander ging, zog Maria 1963 nach Reykjavík. Gunnar sah seinen Vater nie wieder, und als es im Zuge der Gleichberechtigung offiziell gestattet wurde, sich auch nach der Mutter zu benennen, änderte er die Vatersbezeichnung Sigurðsson ab und wurde als Maríuson registriert.
    »Warum kommst du so spät?« Maria hatte immer Wert darauf gelegt, Deutsch mit ihrem Sohn zu reden.
    »Ich musste aufs Land rausfahren. Es ist ein Mord verübt worden.«
    »Schon wieder ein Mord?«
    »Ja, wir stecken bis zum Hals in dieser Ermittlung.«
    »Ach so.«
    »Gute Nacht, Mutter.«
    »Gute Nacht, mein Schatz«, sagte Maria und lächelte ihren Sohn zahnlos an.
    Gunnar drehte sich um und ging in die Küche. Dort stand er eine ganze Weile und kämpfte mit dem Verlangen nach einem Glas Bier und einem eiskalten Bitter dazu. Beides war im Kühlschrank vorhanden, aber an diesem Abend war er entschlossen, der Versuchung zu widerstehen. Er hatte sich fest vorgenommen, an mindestens drei, wenn nicht vier Abenden in der Woche nüchtern ins Bett zu gehen. Er war viel zu

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