Bevor der Morgen graut
richtig vorzunehmen. Wir haben Scheinwerfer aufgestellt und die Szenerie fotografiert, damit die Leicheabtransportiert werden konnte. Außerdem wurde das gesamte Gelände gesperrt, dort müsste sich jetzt ein Streifenwagen aus Hvolsvöllur befinden, um den Tatort zu bewachen. Sobald es aufhört zu regnen und der Boden etwas trockener ist, fahren wir wieder hin. Für heute Nachmittag ist besseres Wetter angesagt. Dann kann man vielleicht Fußspuren finden oder Patronenhülsen.«
Ein Tisch war mit einem Kunststofftuch abgedeckt worden, auf dem die Kleidung des Mordopfers lag. Sämtliche Teile waren durchtränkt mit Wasser und Blut. Ein alter Anorak in Tarnfarben, eine Hose, ein Fleece-Pullover, warme Unterwäsche und Wollsocken. Die Rückseite des Anoraks mit den beiden unterschiedlich großen schwarzen Einschusslöchern wies nach oben, aber auch auf der Vorderseite hatten die Projektile beim Austritt Löcher gerissen. Ein kleines Stück Stoff war grob abgetrennt worden, sodass man das weiße Innenfutter sah.
Elías kommentierte: »Der Mörder hat den Stoff hochgezogen und ein Stück mit einem Messer abgetrennt. Genau wie in dem anderen Fall.«
Gunnar maß das Loch aus. »Durchmesser circa zehn Zentimeter. Der Mörder sammelt weitere Trophäen«, erklärte er.
Magnús zog sein Notizbuch hervor und las einige Informationen über das Opfer vor: »Ein Mann um die vierzig, Familienvater. Wohnt in einem Mehrfamilienhaus am Kleppsvegur in Reykjavík. Arbeitet selbstständig als Elektriker. Geht regelmäßig im Herbst auf dem Land eines Verwandten ganz allein auf Gänsejagd.«
»Andere Interessen?«, fragte Gunnar.
»Überzeugter Christ und Mitglied in einer Sekte. Auf den ersten Blick gibt es keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Ólafur Jónsson«, antwortete Magnús.
»Nur, dass sie auf Gänsejagd gegangen sind«, entgegnete Gunnar.
Magnús nickte. »Trotzdem müssen wir dem nachgehen, ob es eine Verbindung zwischen ihnen gibt. Wir lassen von den Angehörigen jeweils eine Liste mit Verwandten, Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn und allen anderen anfertigen, mit denen die beiden Opfer in Verbindung gestanden haben. Falls sie nicht vollkommen zufällig als Opfer gewählt wurden, ist es durchaus im Bereich des Möglichen, Namen von gemeinsamen Bekannten zu finden. Falls es sich aber um einen Geistesgestörten handelt, der einfach wahllos irgendwen umbringt, wird es sehr viel schwieriger. Sollten wir vielleicht einen Namen für den Mörder finden?«
»Nennen wir ihn einfach den Ganter«, schlug Gunnar vor. »So heißen doch die männlichen Gänse.«
Magnús schrieb »GANTER« an die Tafel und fragte: »Was wissen wir über Ganter?«
»Er killt«, antwortete Gunnar.
»Was kann dahinter stecken?«, überlegte Birkir, ohne irgendjemanden speziell anzusprechen.
Gunnar gab zur Antwort: »Vielleicht handelt es sich um einen fanatischen Vogelschützer, der ausgerastet ist.«
»Du meinst, er hat was dagegen, dass Gänse geschossen werden?«, fragte Magnús.
»Ja.«
Birkir warf ein: »In diesem Herbst werden wohl keine Gänse mehr geschossen, so viel steht fest.«
Magnús blickte ihn an. »Bist du dir da so sicher?«, fragte er. »Ich habe gehört, dass die sich jetzt in Gruppen zusammenrotten und bewaffnete Leute das Jagdgelände bewachen lassen wollen. Meiner Meinung nach sind einige von ihnen durchaus entschlossen, unserem Ganter einen ordentlichen Empfang zu bereiten. Das endet noch in einer Katastrophe, wenn diese Jäger anfangen, aufeinander loszuballern.«
»Ich möchte eigentlich diese Inkasso-Firma ein bisschen genauerunter die Lupe nehmen«, warf Gunnar ein. »Es wäre doch denkbar, dass der Ganter diesen Ólafur aus einem speziellen Grund aus dem Weg geräumt hat. Und dann tötet er einen weiteren Jäger, um unsere Aufmerksamkeit abzulenken.«
»Hast du jemand Bestimmtes im Auge?«, fragte Magnús.
»Nein, aber ich möchte der Sache nachgehen.«
»In Ordnung«, sagte Magnús, »aber wir dürfen auch diese Familie in Litla-Fell nicht vernachlässigen. Sie hatten sowohl die Gelegenheit als auch guten Grund, Ólafur umzubringen.«
Gunnar schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
»Da ist noch eine Sache, die gestern aufgetaucht ist«, sagte Dóra auf einmal. »Es war mir nur wieder entfallen, als der zweite Mord gemeldet wurde.« Sie errötete ein wenig, als alle anderen sie ansahen. »Ich habe gestern mit Ólafurs Rechtsanwalt gesprochen, der mit seinen Privatangelegenheiten zu tun hat und sich mit
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