Bevor der Morgen graut
hatte, war es zu spät. Der Gläubiger des Darlehens, für das Papa gebürgt hatte, sah eine gute Profitmöglichkeit. Er hatte uns den Kiosk seinerzeit für eine ansehnliche Summe verkauft, und jetzt hatte er die Möglichkeit, ihn sich für wenig Geld wieder unter den Nagel zu reißen, obwohl wir die Schulden bereits zu einem großen Teil abgetragen hatten und der Umsatz sich vervielfacht hatte.«
Kolbrún streckte die Hand nach einer Zigarettenschachtel und dem Feuerzeug aus. Sie öffnete die Schachtel, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an.
»Ich hatte auch kein Geld mehr, um am Ende des Monats für die Steuern und die Lotto-Einnahmen geradezustehen. Also wurde das Insolvenzverfahren eröffnet, und ich landete zum Schluss im Gefängnis, weil ich die Umsatz- und Gewerbesteuern nicht abgeführt hatte, denn alles lief ja auf meinen Namen. Papa verlor seinen Hof wegen einer absolut lächerlichen Summe. Solange ich im Knast war, hatte ich keine Möglichkeit, ihm zu helfen, und als ich herauskam, war alles bereits abgewickelt. Das Einzige, was ich nun tun kann, ist tierisch arbeiten und hoffen, dass ich noch einmal ein Angebot für den Hof machen kann. Vielleicht besteht jetzt, wo der neue Besitzer tot ist, eine Chance dazu. Nach dem, was passiert ist, wird seine Frau wohl kaum weiterhin Interesse daran haben, hier ein Ferienhaus zu bauen.«
Gunnar verschwieg, dass er von einem interessierten Käufer wusste.
»Wo arbeitest du?«, fragte er.
»Tagsüber arbeite ich in einem Fischgeschäft, und abends putze ich in der Stadtbibliothek«, erklärte sie. »Ich suche aber noch nach einem Zusatzjob jedes zweite Wochenende. Weißt du da vielleicht etwas?«
Gunnar schüttelte den Kopf und fragte: »Meinst du, dass es gut ist, so viel zu arbeiten?«
Noch bevor Kolbrún antworten konnte, erschienen Birkir und der Bezirksamtmann wieder in der Küche.
»Was zum Kuckuck sucht ihr eigentlich?«, fragte Kolbrún. »Ich habe euch doch die einzige Flinte gezeigt, die Papa besitzt.«
»Wir suchen nach einem anderen Gewehr. Derjenige, der Ólafur erschossen hat, ließ es mitgehen«, antwortete Birkir.
»Ihr seid komplette Nieten«, erklärte Kolbrún kopfschüttelnd.
Der Polizist aus Búðardalur kam in die Küche.
»Habt ihr etwas in den Stallungen gefunden?«, fragte der Bezirksamtmann.
»Nein, aber es kam ein Anruf aus Reykjavík«, antwortete der Polizist, der niedergeschlagen klang. »Da ist schon wieder ein Gänsejäger erschossen worden, und zwar heute Morgen im Rangárvellir-Bezirk.«
Schweigend blickten die Kriminalbeamten einander an.
»Ihr seid komplette Nieten«, wiederholte Kolbrún, während sie die Zigarettenasche in die Spüle schnippte.
Birkir wandte sich Gunnar zu. »Ich nehme an, dass wir direkt dorthin fahren sollen.«
»Wahrscheinlich.«
Die Männer stapften hintereinander durch den langen, schmalen Korridor, Gunnar als Letzter, und er zögerte ein wenig, bevor er zur Tür hinausging. Er drehte sich um und sagte zu Kolbrún: »Ich besitze auch ein Motorrad.«
19:30
E s regnete, stürmte und war stockfinster, als Birkir und Gunnar in der Landgemeinde Austur-Landeyjar im Rangárvellir-Bezirk eintrafen. Trotzdem hatten sie keine Probleme, den Tatort zu finden. Das blinkende Blaulicht eines Streifenwagens war in der flachen Landschaft trotz der schlechten Sicht schon von weitem zu sehen.
Ein Polizist in Regenkleidung und gelber Leuchtweste stoppte sie ein ganzes Stück vor dem Tatort mit einer roten Laterne und ließ sie erst passieren, nachdem sie sich ausgewiesen hatten. Sie stellten das Auto hinter dem Streifenwagen ab. Dort standen auch drei große Geländewagen der Rettungsmannschaften mit voll aufgedrehten Scheinwerfern und zwei weitere Fahrzeuge. Durch das Toben des Unwetters hindurch konnte man zwischen einzelnen Sturmböen das Dröhnen der starken Dieselmotoren hören.
Birkir starrte angestrengt durch die Windschutzscheibe, an der die Wischer sich ohne großen Erfolg abmühten. Draußen in der Dunkelheit hörte man Hundegebell und Rufe von Menschen. Ein Mann in gelbem Regenmantel erschien im Licht der Scheinwerfer. Er tastete sich an ihrem Wagen entlang, riss die hintere Wagentür auf und schwang sich ins Auto. Es war Þorlákur, er war bei der Kriminalpolizei in Selfoss.
»Die Leiche liegt da auf einer Weide, ungefähr zweihundert Meter vom Weg entfernt«, sagte er ohne weitere Einleitung. »Was für ein Sauwetter«, fügte er hinzu, als wieder ein wolkenbruchartiger Regenguss auf
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