Bevor der Morgen graut
als nach Menschen. Sein Verdacht bestärkte sich, als Gunnar flüsterte: »Die Tiere, die hierher kommen, sind wahrscheinlich heute Nacht auf den Sandbänken unten an der Hvítá gewesen. Da fressen sie Sand, das ist gut für die Verdauung. Anschließend fliegen sie dann die Wiesen an und fressen Gras.«
»Sind sie das ganze Jahr über hier?«, fragte Birkir.
»Nein. Sie werden bei nächster Gelegenheit nach England ziehen, wenn es Nordwind gibt. Ende März kommen sie zurück. Nur die Gänse am Stadtteich in Reykjavík bleiben das ganze Jahr über hier, aber die würde ich nicht essen wollen.«
Eine halbe Stunde später tat sich endlich etwas. Ein großer Trupp Gänse kam gegen den Wind direkt auf sie zugeflogen. Sobald die Tiere in Schussweite vor ihnen waren, richtete Birkir sich auf und feuerte ab. Die vorderste Gans geriet ins Trudeln und fiel wie ein Stein zur Erde. Die anderen Gänse scheuten, und der Keilflug geriet einen Augenblick durcheinander, aber dann formierten sie sich wieder, bogen nach Norden ab und verschwanden schnatternd im Dunst, der sich über den feuchten Niederungen gebildet hatte.
»Warum hast du nur einmal geschossen?«, fragte Gunnar erstaunt. »Du hättest noch zwei erwischen können.«
Birkir schwieg zuerst, doch dann fragte er: »Wozu?«
»Na, einfach um des Jagdvergnügens willen.«
Birkir blickte seinen Kollegen an. »Ich brauche bloß eine Gans zu schießen, um zu wissen, was für ein Gefühl es ist, Gänse zu jagen.«
Gunnar sah ihn ungläubig an. »Und was für ein Gefühl ist das?«, fragte er schließlich.
Birkir überlegte eine Weile. »Ich habe so ein primitives Glücksgefühl verspürt, als der Vogel abstürzte. Wahrscheinlich steckt da immer noch der Jagdtrieb im Menschen, obwohl es schon einige Generationen her ist, seit er jagen musste, um zu überleben.«
»Du findest es also nicht aufregend?«, bohrte Gunnar weiter.
»Es war nicht unähnlich dem Gefühl, das man hat, wenn ein Straftäter nach einem endlosen Verhör endlich gesteht. Diese Art von Freude beruht wohl ebenfalls auf eher primitiven Instinkten, und ich bin nicht sonderlich stolz darauf. Ich glaube, ich habe kein Interesse daran, dieses Jagdvergnügen zu kultivieren.«
Gunnar schaute seinen Kollegen an und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz schön komisch, aber das habe ich dir wohl schonöfter gesagt. Lassen wir’s also dabei bewenden und fahren zurück in die Stadt.«
Auf dem Weg zurück zum Auto trug jeder seinen Teil der Last. Inzwischen stand die Sonne bereits wesentlich höher, und es war taghell, sodass ihnen wohl kaum noch aufgelauert werden würde. Als sie die Waffen und die Beute im Gepäckraum verstaut hatten, setzten sie sich in den Jeep, und Birkir schaltete sein Handy wieder ein.
»Acht neue Nachrichten«, sagte er, und dann kam das Piepen für eine Sprachmitteilung. Er wählte die Nummer der Mailbox und lauschte.
»Da ist wieder ein Gänsejäger erschossen worden«, sagte er.
»Verdammt nochmal«, sagte Gunnar. »Wo?«
»Heute Morgen im Mýrar-Bezirk.«
»Hör mal, der ist also in dieselbe Richtung gefahren wie wir! Es hätte tatsächlich klappen können.«
Birkir hörte immer noch die Mailbox ab. Dann sagte er: »Der Mann war nicht allein. Sein Jagdpartner entkam und konnte gleich Meldung erstatten. Das Gebiet ist mit Straßensperren dichtgemacht worden. Jetzt haben wir die Chance, ihn zu erwischen.«
10:15
G unnar und Birkir brauchten diesmal länger, bis sie den Tatort gefunden hatten. Sie bogen an der falschen Kreuzung von der Straße nach Snæfellsnes ab und mussten sich mit der Polizei in Borgarnes in Verbindung setzen, um sich den Weg beschreiben zu lassen. Als sie endlich am Tatort eintrafen, sah es dort zwar ähnlich aus wie bei den vorherigen, aber trotzdem irgendwie anders. Dieser Mord schien unter Zeitdruck begangenworden zu sein, und das Opfer war nicht allein gewesen. Ein älterer Mann, wahrscheinlich um die siebzig, war mit einem Schuss aus kurzer Entfernung in den Rücken getroffen worden. Zwischen seinen Schulterblättern befand sich ein faustgroßes Loch, und die Wucht des Schusses hatte den Mann sofort zu Boden geworfen. Seine Arme lagen ausgestreckt zu beiden Seiten, er hatte sich im Fallen nicht mehr mit ihnen abfangen können. Neben ihm lagen eine ziemlich neue automatische Schrotflinte und eine große Tasche mit Lockvögeln, die umgekippt war.
Der Schwiegersohn des Opfers saß auf dem Rücksitz des Streifenwagens, der mit laufendem Motor ganz in der
Weitere Kostenlose Bücher